Zeiten der Politisierung - Der NDR in den 1960er-Jahren
Die Profilierung dieser drei Programme war eine ständige Aufgabe. Mit Strukturreformen reagierte man darauf, dass sich das Verhalten des Publikums grundlegend veränderte. Transistor- und Autoradios machten die mobile Nutzung möglich. Junge Leute wollten die neuen Töne der Pop- und Rock-Musik hören – die Radiomacher mussten also dem Schreckgespenst der "Luxemburgisierung" begegnen, sprich der Attraktivität von Radio Luxemburg auf diesem Gebiet entgegentreten.
Während das Fernsehen abends dominierte, galt es für das Radio, sein Publikum durch den Tag zu begleiten. Magazinformate wurden dabei immer wichtiger. Die früher sehr kleinteilige "Kästchen"-Struktur des Radioprogramms wurde Schritt für Schritt zu größeren Programmflächen umgebaut. Die Stimmen der Moderatorinnen und Moderatoren wurden entscheidend, also ihre Fähigkeit, das Publikum anzusprechen und an das Programm zu binden.
Die Anstrengungen wurden belohnt: War der Hörfunk zahlenmäßig zu Beginn der 60er-Jahren auf einem Tiefpunkt angekommen, bescheinigten Umfragen den NDR Programmen am Ende der Dekade wieder mehr Zuspruch. Die ersten Bewährungsproben waren bestanden.
Aufbruch – Die Fernsehprogrammangebote des NDR
Die herausragende Rolle in dieser Zeit aber übernahm das Fernsehen, das seit 1954 als ARD-Gemenschaftsprogramm Deutsches Fernsehen sendete. Der NDR wurde speziell in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre zu der führenden Adresse auf diesem Gebiet. Viele Redakteure, die das Programm in den Fernsehstudios in Hamburg-Lokstedt sowie auf dem Gelände von Studio Hamburg in Hamburg-Tonndorf erarbeiteten, galten als innovativ, engagiert sowie als experimentier- und meinungsfreudig. So wurde dem Team um den von 1960 bis 1966 amtierenden Fernsehspiel-Leiter Egon Monk zugeschrieben, nach Lessing eine "zweite Hamburger Dramaturgie" aufgestellt zu haben. Und dem Kreis um den Leiter der Abteilung Zeitgeschehen, Rüdiger Proske, wurde bescheinigt, die politische Bewusstseinsbildung der Bundesbürger mit vorangetrieben zu haben.
Neue Produktionsmodelle
Die Voraussetzungen für diesen Aufbruch waren günstig. Organisatorisch machte die Auflösung des Nord- und Westdeutschen Rundfunkverbands (NWRV) den Weg für neue Produktionsmodelle frei. Die schwerfällige, gemeinsam von NDR und WDR getragene Großorganisation des NWRV war 1961 abgeschafft worden.
Werner Pleister, nach dem Krieg erster "Fernseh-Intendant" und führender Kopf beim Fernsehen im Norden, hatte schon 1959 seinen Platz räumen müssen. Der NDR baute die sich seit 1958 anbahnende Zusammenarbeit mit den Filmatelierbetrieben des Real-Film-Mitbegründers Gyula Trebitsch aus, schloss vielfältige Kooperationsverträge, die dann zu Beginn der 1960er-Jahre zur Gründung von Studio Hamburg führten. Darüber hinaus schuf der Sender ein Netz von Geschäftskontakten zu kleineren und mittleren Produktionsbetrieben, beispielsweise zu dem jungen kreativen Animationsfilm-Unternehmen "cinegrafik".
Kreative Angebote
Eine zweite Voraussetzung für den Aufbruch kam hinzu. Als sich der Start des Zweiten Deutschen Fernsehens verschob, sollte die ARD eine an sich recht kostenintensive Übergangslösung anbieten – nämlich die Ausstrahlung eines zweiten ARD-Fernsehprogramms zwischen 1961 und 1963. Der NDR, führend auf dem Gebiet des Fernsehens, ergriff diese Chance und nutzte das zweite ARD-Fernsehprogramm als Versuchslabor für interessante neue Angebote.
Programme des NDR wie das Politmagazin "Panorama", große Auslandsreportage-Reihen wie das "Londoner Tagebuch" und die cineastischen Highlights des "Filmclub" erwiesen sich in diesem Experiment als sehr erfolgreich. Eine ähnlich kreative Aufbruchsstimmung herrschte ab Mitte der 1960er-Jahre wieder, als man 1965 im Norden das dritte Fernsehprogramm aufbaute und viele Bildungs- und Kultursendungen anbieten konnte.
Konflikte und Krisen
Die Kehrseite dieser Aufbruchsstimmung bildete eine Serie von Konflikten. So gut wie keine Sendung der Magazin-Reihe "Panorama", die seit 4. Juni 1961 regelmäßig ausgestrahlt wurde, ging über die Bildschirme, ohne eine erbitterte Diskussion in der Presse hervorzurufen, die Gerichte zu bemühen und bundesrepublikanische Politiker in Aufruhr zu versetzen. Das neue Format mit einem investigativen Journalismus, politisch engagiert, meinungsfreudig und streitbar, das Rüdiger Proske und der Journalist Gert von Paczensky nach britischem Vorbild aus der Taufe gehoben hatten, eckte an.
Obwohl es immer wieder Unterstützung durch die Verantwortlichen und die Aufsichtsgremien gegeben hatte, zeigten sich bald die Grenzen des damals Möglichen. Im Mai 1963 wurde von Paczenskys Vertrag nicht mehr verlängert; wenig später musste auch Rüdiger Proske seinen Stuhl räumen. Die „Oppositionsfunktion“, die "Panorama" zugeschrieben wurde, führten Journalisten wie Eugen Kogon, Joachim C. Fest und Peter Merseburger fort.
Kristallisationspunkte
Für viele war der NDR in diesen frühen 1960er Jahren der "innovativste Sender der Republik". Im Bereich des Fernseh- und des Dokumentarspiels wurden neue Ausdrucksformen gesucht. Egon Monk, Christian Geissler, Hans Brecht und viele andere griffen aktuelle Entwicklungen des Filmschaffens auf, hielten nach neuen jungen Talenten in Deutschland Ausschau, vernetzten sich international und führten filmgeschichtliche Errungenschaften fort. Monks Fernsehspielabteilung und Brechts "Filmclub"-Redaktion bildeten solche Kristallisationspunkte für Filminteressierte und Filmschaffende, aus denen auch die Dokumentarfilmer Klaus Wildenhahn und Eberhard Fechner hervorgingen.
Die Mitte des Jahrzehnts markierte einen Wechsel. Ende 1965 setzte die Intendanz der Affären-umwitterten Satire-Sendung "Hallo Nachbarn" ein Ende, die seit 1963 im Ersten lief. Die 17. Folge am 29. Dezember 1965 wurde nicht mehr ausgestrahlt. Der Parteieneinfluss war zu groß geworden, das kritische Unterhaltungsformat konnte nicht gehalten werden.
Egon Monk nahm in dieser Zeit eine neue Herausforderung an – er wechselte auf die Intendanz des Hamburger Schauspielhauses. Sein Nachfolger wurde Dieter Meichsner, dessen intellektuelle Auseinandersetzung mit den aktuellen politischen Strömungen jedoch ganz andere Akzente setzte. Sein Film "Alma Mater" – eine Auseinandersetzung mit der zunehmenden Radikalisierung und Gewalttätigkeit der Studentenbewegung – sorgte für Proteste der APO und für einen Eklat.
Der Norden sieht fern
Bei all dem dürfen die Highlights der Fernsehunterhaltung nicht vergessen werden. Beispielsweise der Sketch "Dinner for one" und die Aufzeichnung von "Tratsch im Treppenhaus" aus dem Hamburger Ohnsorg-Theater, die bis heute als Klassiker gelten, sowie "Die Aktuelle Schaubude" und die spannenden deutschen Krimi-Reihen, die das Fernsehen des NDR nachhaltig mitprägten.
Sowohl die politisierenden und künstlerisch-innovativen als auch die bildenden und unterhaltenden Programme der 60er-Jahre trugen entscheidend dazu bei, dass das damals heftig diskutierte „Fernsehfieber“ auch im Norden um sich griff. Alle diese bemerkenswerten Leistungen zeigten deutlich, dass das Fernsehen anspruchsvoll sein konnte – auf allen Gebieten.
- Teil 1: Neue Horizonte
- Teil 2: Bewährungsproben