Krebs: Nicht nur schwere Krankheit, sondern auch Armutsrisiko
Nadine Leuschner hatte Krebs. Bereits zum zweiten Mal. Und als wäre die zweite Diagnose nicht schon Schock genug gewesen, kam dann auch noch die Nachricht der Krankenkasse, dass sie ausgesteuert wird - also kein Krankengeld mehr bekommt.
Nadine Leuschner sitzt mit einer Kaffee-Tasse am Küchentisch in ihrer Wohnung in Lübeck St. Lorenz. Es ist eine kleine Wohnung. Zwei Räume. Von der Küche aus kann man auf die schmale, kopfsteingepflasterte Straße gucken. Wer Frau Leuschner zum ersten Mal sieht, wie sie da am Küchentisch sitzt, würde nicht vermuten, dass sie schwer krank ist. Sie ist 50 Jahre alt, hat kurze dunkle Löckchen, die sie mit einer Klammer auf der Seite zurückgesteckt hat. Und sie macht einen fröhlichen Eindruck. Und das obwohl hinter ihr eine mehr als anstrengende Zeit liegt und sie gute Gründe hätte, alles andere als fröhlich zu wirken. Ende 2022 wurde bei ihr Brustkrebs festgestellt. Das zweite Mal innerhalb weniger Monate.
Mit Erkrankung Nummer zwei kommt die Aussteuerung
Während einer Reha, einige Monate nach ihrer ersten Erkrankung, fühlte sie auf einmal wieder einen Knoten in ihrer Brust. "Ich war drei Monate vorher zur Mammografie und Sonografie und da war gar nichts", erinnert sie sich. "Das war gefühlt dann so aus dem Nichts." Es folgen eine erneute Chemo-Therapie und eine Operation im vergangenen Sommer. Dabei nehmen ihr die Ärzte die rechte Brust ab. Alles ja eigentlich schon belastend genug. Doch dann der nächste Schock: Während sie mitten in der Behandlung ist, teilt ihre Krankenkasse ihr mit, dass sie ausgesteuert wird. Bedeutet: Sie hat keinen Anspruch mehr auf Krankengeld. Das passiert, wenn Menschen länger als 78 Wochen innerhalb von drei Jahren krank sind.
Nach dem Krebs in die Armut
Nach diesen 78 Wochen ist nicht mehr die Krankenkasse zuständig, sondern der Staat. Das ist im Sozialgesetzbuch so geregelt. Es folgt zunächst Arbeitslosengeld und in vielen Fällen schließlich die Erwerbsminderungsrente. So auch bei Nadine Leuschner. Sie muss im Moment mit weniger als 1.000 Euro im Monat auskommen: "Man wird ausgesteuert und rutscht ganz schnell in die Armut", berichtet sie und erzählt von ihren schlaflosen Nächten deswegen.
"Fühlt sich wie eine Bestrafung an"
Dabei galt Nadine Leuschner zwischen den beiden Diagnosen sogar als gesund. Aber weil sie so kurz aufeinander folgten und es sich um ein Rezidiv handelte – also eine Art Rückfall – wertete ihre Krankenkasse ihre beiden Erkrankungen als eine. Besonders bitter: Wäre sie nur ein paar Monate später erneut erkrankt, hätte sie die Dreijahresgrenze überschritten. Die Aussteuerung wäre damit kein Thema gewesen und sie würde weiter Krankengeld bekommen. Über diese Dreijahresfrist ärgert sie sich besonders. "Diese Frist – ich reite da jetzt auch noch mal drauf rum – die ist für mich absolut unmenschlich. Das fühlt sich wie eine Bestrafung an, dafür dass man es nicht geschafft hat, gesund zu bleiben. Keiner möchte Krebs haben. Ich wollte auch nicht wieder Krebs haben."
Krankenkassen ohne Ermessensspielraum
Sie wünscht sich, dass diese Dreijahresfrist abgeschafft wird. Die Krankenkassen haben dabei allerdings keinen Ermessensspielraum, sagt der Verband der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland (GKV) dazu. Ändern könnte diese Regelung demnach nur der Gesetzgeber. Eine Anfrage von NDR Schleswig-Holstein beim Bundesgesundheitsministerium dazu hat noch niemand beantwortet.
Nadine Leuschner ist kein Einzelfall
Dass eine Krebserkrankung auch für viele andere Betroffene große finanzielle Herausforderungen bedeuten kann, weiß auch die Krebsgesellschaft in Schleswig-Holstein. Denn schon das Krankengeld - also das was vor Ablauf der 78 Wochen von den Krankenkassen gezahlt wird - liegt laut Krebsgesellschaft mit in der Regel 60 Prozent des letzten Netto-Gehaltes deutlich unter dem gewohnten Einkommen. Und: "Nicht alle Leistungen, die man innerhalb der Behandlungen ausführen lässt, werden von den Krankenkassen übernommen", sagt die Geschäftsführerin der Krebsgesellschaft in Schleswig-Holstein, Vanessa Boy. Das fängt an bei der Taxifahrt zur Chemo-Therapie und reicht bis zu Medikamenten, bei denen es einen gewissen Eigenanteil gibt. "Je nachdem, wie intensiv die Behandlung ist, summiert sich das natürlich", so Boy.
Beratungsangebote nutzen
Wie viele Erkrankte in Schleswig-Holstein nach ihrer Diagnose finanzielle Probleme haben, lässt sich laut Krebsgesellschaft nicht genau sagen. Das liegt unter anderem auch daran, dass Betroffene über Geldprobleme häufig nicht offen sprechen, vermutet Geschäftsführerin Boy. Sie rät zu den Beratungsangeboten der Krebsgesellschaft. Patientinnen und Patienten bekommen hier zum Beispiel erklärt, welche Dinge auf sie zukommen und welche Möglichkeiten es vielleicht auch gibt, finanzielle Unterstützung zu bekommen. Denn die gibt es. Aber: "Es wird einem nicht gesagt, dass man irgendwo einen Antrag stellen soll. Man muss eben Eigeninitiative zeigen", erklärt Boy.
Wer Hilfe will, muss sich auf viel Bürokratie einstellen
Diese Initiative hat auch Nadine Leuschner gezeigt: Um besser über die Runden zu kommen, hat sie in den vergangenen Monaten viel Zeit mit Papierkram verbracht. Sie hat zahlreiche Anträge und Formulare ausgefüllt, sich informiert, welche Fristen einzuhalten sind, um Geld zu bekommen. All das in einer Zeit, in der sie ihre Energie eigentlich darauf konzentrieren müsste, gesund zu werden. Aber dieses "ins Handeln kommen" zeichnet die 50-Jährige auch irgendwie aus. "Ich möchte aufmerksam machen und auch wenn ich merke, ich habe keine Kraft, pusht mich vielleicht gerade auch die Situation in der ich so bin", sagt sie dazu. "Dass ich merke: Ich möchte da in eine Aktion kommen. Ich möchte nicht hilflos dasitzen. Sondern ich möchte meine Kraft, die ich irgendwie noch aufbringen kann, dafür einsetzen, etwas zu tun."
Lübeckerin will Patientenbotschafterin werden
Die Kraft, die sie hat, schöpft sie unter anderem durch viel Zeit in der Natur: Sie ist viel draußen im Wald oder sie fährt ans Meer. Sie ist ein Bewegungsmensch. Und sie setzt diese Kraft nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere ein: In der Vergangenheit hat sie als studierte Sportwissenschaftlerin zum Beispiel Online-Sportkurse für andere Krebspatientinnen und -patienten angeboten. Und sie macht gerade eine Fortbildung am UKSH in Lübeck. Sie wird Patientenbotschafterin, um vielleicht anderen, die vor ähnlichen Herausforderungen wie sie stehen, zu helfen. Die Fortbildung geht noch bis Mitte Februar. Ungefähr dann ist auch ihre aktuelle Tabletten-Chemo zu Ende. Hoffentlich die letzte.