Wie Jugendliche Fairness im Alltag lernen
Soziale Kompetenz, Empathie, Gemeinschaftssinn – all das lässt laut einer aktuellen Studie der Universität Bielefeld bei jungen Großstädtern zu wünschen übrig. Demnach liegen grundsätzliche gesellschaftliche Werte wie Solidarität schon im Kindesalter in der Schieflage. Der Verein Zweikampfverhalten im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg will hier gegensteuern. NDR Fernsehmoderator Michel Abdollahi ist im Vorstand aktiv. Die "NDR Info Perspektiven" sind vor Ort gewesen.
Streit, wenig Respekt vor den Lehrern und ständige Eskalationen gehören an einigen Schulen zur Normalität. Der Verein Zweikampfverhalten will Jugendlichen Alternativen aufzeigen und setzt dabei verschiedene Schwerpunkte: Dampf ablassen im Sport, Regeln verstehen und anwenden. Gelernt wird das unter anderem beim Coolness-Training. "Ich werde heute mutig sein und alle respektieren", ist der erste Satz des Coolness-Trainings im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg. In der Sporthalle des Bildungszentrums "Tor zur Welt" lernen Kinder und Jugendliche, einen kühlen Kopf zu bewahren. Das fällt ihnen aus ganz unterschiedlichen Gründen manchmal schwer. "Ganz früher hab ich mich öfters gestritten und geschlagen. Manchmal wurde ich rassistisch beleidigt", sagt der elfjährige Sahid. Für den achtjährigen Leon liegt das Problem auf der Hand: "Ich versuche, mich die ganze Zeit zu benehmen, und das geht nicht wegen meiner kleinen Schwester. Sie ist fünf Jahre alt."
Beim Sport lernen, mit Gefühlen umzugehen
An den Provokationen des Alltags kann der Verein Zweikampfverhalten nicht viel ändern, am Umgang mit Konflikten schon. An diesem Tag machen fünf Jungs zwischen acht und 14 Jahren beim Coolness-Training mit. Jeder erzählt Trainerin Leonie Althaus, wie es ihm geht und wann er sich das letzte Mal gestritten hat. Nach der Begrüßungsrunde geht es darum, sportlich zu werden, sagt die Psychologin Althaus. "Weil das einfach ein schönes Mittel ist. Genau dort geht es um Fairness, um Gerechtigkeit. Zudem muss man Frustration aushalten. Emotionen sind im Sport - gerade im Teamsport - sehr schnell und merkbar da. Da ist das einfach ein tolles Mittel, das zusammen zu erleben und zu begleiten."
Streit aus dem Weg gehen
In einem Teil der Halle werden eng nebeneinander viele Hütchen aufgestellt. Bei der Übung sollen die Jungs mit ausgestreckten Armen querfeldein zwischen ihnen umherlaufen. Dabei sollen sie sich möglichst nicht berühren. Der ehrenamtliche Trainer Ali Osman erklärt den Jungs, was das bringt: "Wenn jemand im Alltag in der Schule zu euch kommt und mit Absicht etwas macht, könnt ihr das ganz einfach vermeiden. Dann habt ihr keinen Stress mehr." Die jungen Teilnehmer haben auch schon andere Methoden gelernt, um Streit aus dem Weg zu gehen. "Drei Mal atmen. Wenn das nicht funktioniert, dann soll man sagen: 'Hey, kannst du das mal bitte lassen' Ich will gerade keinen Streit haben'", erklärt der elfjährige Sahid.
Bei Beleidigungen drohen Liegestütze
Für den Kurs haben die Jungs eine Empfehlung vom Jugendamt bekommen. Das Team von Zweikampfverhalten geht aber auch in die Schulen und bietet dort Workshops an. Insgesamt erreicht der Verein etwa 250 Kinder pro Jahr. Finanziert wird das durch eine Initiative der Unternehmerin Susanne Klatten und der gemeinnützigen Aktiengesellschaft Phineo, aber auch durch öffentliche Gelder und Spenden. Auch beim Coolness-Training hauen sich die Kinder und Jugendlichen manchmal Beleidigungen um die Ohren. Sportstudent Ali Osman reagiert sofort. "Rote Karte! Rote Karte hab ich gesagt! Jetzt machen wir alle zusammen 15 Liegestütze", ruft er und alle Teilnehmer machen mit.
Merkbare Erfolge
Auch bei der Partie Basketball, die zum Schluss gespielt wird, gilt Fair Play, erklärt der 13 Jahre alte Matteas. "Wenn du aus Versehen jemanden verletzt, dann sagst du Entschuldigung, und wenn jemand dich verletzt und sagt Entschuldigung, dann solltest du ihn auch nicht mehr angreifen." Jungs wie Matteas oder Sahid können später selbst als Tutor bei Zweikampfverhalten einsteigen. Von der Wirkung sind die Coolness-Trainer Osman und Althaus überzeugt. "Sie haben mehr Respekt zueinander und achten darauf, weniger zu foulen", erklärt Osman. Auch Leonie Althaus sagt, sie würde ganz am Ende des Kurses merken, dass die Jugendlichen ruhiger und motivierter sind und im Teamsport fair bleiben.
Werden Kinder immer rücksichtsloser?
Eine aktuelle Studie mit dem Titel "Generation Rücksichtslos?" liest sich auf Anhieb so, als würde die Jugend zunehmend verrohen. Die Universität Bielefeld hat dafür vor allem den Gemeinsinn von Kindern und Jugendlichen aus deutschen Großstädten zwischen sechs und 16 Jahren untersucht. Dafür wurden sie mit Fragen und allgemeinen Statements konfrontiert. Zum Beispiel: "Ich helfe anderen, wenn sie ungerecht behandelt werden" oder "Es ist ekelhaft, wenn Schwule sich in der Öffentlichkeit küssen." Anhand der Antworten der Teilnehmer gebe es eindeutige Tendenzen, Schwächere abzuwerten. Bei Jungen zeige sich dies besonders deutlich, erklärt der Studienautor Holger Ziegler, Professor für Erziehungswissenschaft. Wenn Jugendliche hier Defizite entwickeln, könne sich das verheerend auf das gesellschaftliche Klima auswirken.
Gesamtgesellschaftliches Problem
Auch Teresa Koloma Beck forscht zu Gewalt-Konflikten im Alltag. Sie ist von den Ergebnissen der Studie nicht überrascht. Nach Meinung der Professorin für Soziologie und Globalisierung solle man die Frage nach der Empathie-Fähigkeit aber nicht nur Kindern, sondern auch Erwachsenen stellen. Das schließe auch die Politik mit ein. In der Arbeitswelt stehe vielmehr als früher die Leistung des Einzelnen im Vordergrund. Auch Schulen, Forschungseinrichtungen und sogar das Privatleben seien davon geprägt. Sie bemängelt, dass das Thema Gemeinwohl gesellschaftlich generell keinen besonders hohen Stellenwert habe.