Vor 30 Jahren: Das Messerattentat auf Monica Seles am Rothenbaum

Stand: 30.04.2023 10:00 Uhr

Der 30. April 1993 verändert die Tennis-Welt. Am Hamburger Rothenbaum wird Monica Seles von einem psychisch gestörten Mann niedergestochen. Sie hat noch Glück im Unglück.

von Hanno Bode

Monica Seles atmet tief durch. Sie wirkt angespannt und auch ein wenig ausgepumpt. Nach siebenwöchiger Turnierpause hat der Tennis-Star noch nicht wieder richtig zu seinem Rhythmus gefunden. Im Viertelfinale der Sandplatzveranstaltung am Hamburger Rothenbaum führt die Weltranglistenerste gegen die Bulgarin Magdalena Maleeva dennoch mit 6:4, 4:3.

Seles ist zu dieser Zeit selbst in schlechter Verfassung zu gut für die Konkurrenz. Sie ist eine Ausnahmespielerin. Acht Punkte benötigt die Serbokroatin nun noch, um dem Traumfinale gegen ihre Dauerrivalin Steffi Graf ein Stück näherzurücken.

Beim Seitenwechsel setzt sich Seles auf die weiße Bank neben dem Schiedsrichterstuhl. Sie beugt sich zu ihrer Wasserflasche vor, trinkt einen Schluck und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Diese Bewegung, sagen die Ärzte später, habe sie wahrscheinlich davor bewahrt, heute im Rollstuhl zu sitzen.

Ein lauter Schrei lässt Tausende von Zuschauern auf dem Centre Court verstummen. Seles taumelt in Richtung Netz. In der Reihe hinter ihrer Sitzbank bricht ein Tumult aus. Die Situation ist unübersichtlich. Es sind Momente, die die Tennis-Welt verändern.

Messerattacke in der Spielpause

Zunächst ist unklar, was genau sich an diesem warmen Frühlingsabend des 30. April 1993 am Rothenbaum ereignet hat. Seles kann sich nicht mehr auf den Beinen halten. Sie bricht vor dem Netz zusammen und liegt nun auf der roten Asche. "Es war ein grausamerer Schmerz, als ich ihn mir je hätte vorstellen können", sagt sie später. Helfer eilen herbei, um die Serbokroatin erstzuversorgen.

Ihr weißes Shirt ist am Rücken blutverschmiert. Derweil wird in der ersten Sitzreihe ein Mann von mehreren Personen überwältigt. Er hält ein Messer in den erhobenen Händen, will ein zweites Mal zustechen, wehrt sich nach Kräften. Seine Baseball-Mütze fällt während des Kampfes zu Boden. Und auch das lange Schlachtermesser, mit dem er Seles zuvor in die Schulter gestochen hat.

"Mann mit einem bösartigen Grinsen im Gesicht"

Der unscheinbar, aber auch unheimlich wirkende Mann mit der ungepflegten Frisur und dem gemusterten lila Hemd wird abgeführt. Sein Name ist Günter Parche. Er kommt aus Thüringen, ist erwerbslos und ein paranoider Verehrer von Steffi Graf, die er zurück auf dem Tennis-Thron sehen will. "Frau Graf war für ihn eine Göttin. Nicht im profanen Sinne, sondern eine Göttin, die für ihn nie im Bereich des Erreichbaren gewesen wäre", erklärte Parche-Anwalt Otmar Kury.

Seles wird den Täter nicht mehr aus ihrem Gedächtnis streichen können. In ihrer 2009 erschienenen Biografie beschreibt sie die Momente, die ihr Leben veränderten: "Sofort drehte ich mich um, sah einen Mann mit einem bösartigen, höhnischen Grinsen im Gesicht. In seiner Hand: ein langes Messer! Er hat mir damit Millimeter neben die Wirbelsäule gestochen. Ärzte sagten mir später, hätte ich mich in diesem Moment nicht nach vorne gebeugt, hätte ich gelähmt sein können."

Wenn Sekunden das Leben verändern

Seles hat Glück im Unglück. Physisch trägt sie keine bleibenden Schäden davon. Das Schulterblatt bleibt unversehrt, der Einstich hat lediglich Muskel- und Fasergewebe verletzt. Die Ärzte prognostizieren ihr, dass sie mit etwas Glück in fünf Wochen wieder das Training aufnehmen kann.

Monica Seles (l.) und Steffi Graf © picture-alliance
Zu Beginn der 1990er-Jahre große Rivalinnen: Monica Seles (l.) und Steffi Graf .

Zwei Tage nach dem Attentat bekommt die damals 19-Jährige Besuch von Steffi Graf. Die Deutsche bleibt nur einige Minuten im Krankenhaus. Sie muss zum Rothenbaum, dort das Finale gegen die Spanierin Arantxa Sánchez Vicario bestreiten.

Seles ist verstört. Sie war davon ausgegangen, dass die Veranstaltung nach dem Anschlag abgebrochen wurde. Doch der Tenniszirkus zieht weiter - zunächst ohne die vor dem Attentat beste Spielerin der Welt. Der Teenager bringt nicht die Kraft für ein schnelles Comeback auf. "Ich bin niedergestochen worden, auf dem Tennisplatz, vor zehntausend Leuten. Es ist nicht möglich, distanziert darüber zu sprechen. Es veränderte meine Karriere unwiderruflich und beschädigte meine Seele. Ein Sekundenbruchteil machte aus mir einen anderen Menschen", schrieb Seles später in ihrer Biografie.

Sie kämpft nach dem Attentat mit Angstzuständen, Depressionen und Albträumen. Erst nach einer psychologischen Therapie kann sie im August 1995 auf die WTA-Tour zurückkehren - über zwei Jahre nach der Wahnsinnstat von Günter Parche.

"Kann nicht verstehen, warum er nicht büßen musste"

Während Seles dauerhaft mit den Folgen des Anschlags zu kämpfen hat, kommt der Täter mit einer zweijährigen Bewährungsstrafe davon. Dem arbeitslosen Dreher werden vor Gericht eine "hochabnorme Persönlichkeitsstruktur" und verminderte Steuerungsfähigkeit bescheinigt. Seles ist entsetzt: "Ich kann nicht verstehen, warum dieser Mensch nicht für seine Tat büßen musste."

Monica Seles © picture-alliance
Monica Seles spielte nach dem Attentat kein Turnier mehr auf deutschem Boden.

Auch eine Schadenersatzklage in Höhe von 12,2 Millionen Euro gegen den Deutschen Tennis Bund als Veranstalter des Rothenbaum-Turniers scheitert. Seles tritt nach dem Attentat nicht mehr in Deutschland an. "Dies ist nun einmal das Land, das den Mann, der mich angegriffen hat, nicht ausreichend bestrafte", sagt sie verbittert.

Attentäter Parche stirbt 2022

Obgleich Seles nach ihrem Comeback noch einige bemerkenswerte Erfolge feierte, findet die heutige US-Amerikanerin nie wieder zu ihrer alten Form zurück. 2003 bestreitet sie ihr letztes Profimatch. Ständige Rücken- und Fußprobleme verhindern anschließend eine anvisierte Rückkehr auf die WTA-Tour. 2008 beendet Seles offiziell ihre Karriere, die möglicherweise noch erfolgreicher verlaufen wäre, hätte es da nicht diesen 30. April 1993 am Rothenbaum gegeben.

Parche stirbt im August 2022 im Alter von 68 Jahren in einem Pflegeheim im thüringischen Nordhausen. Dort hatte er nach mehreren Schlaganfällen die letzten 14 Jahre seines Lebens verbracht.

Dieses Thema im Programm:

Sportclub | 23.04.2023 | 23:35 Uhr

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