Grazie(n) auf großer Bühne: Turn-Omas trotzen dem Alter
Mit zusammen 168 Jahren sind die Bremer Turn-Omas Roswitha Wahl (86) und Renate Recknagel (82) ein erfolgreicher Show-Act und Vorbild für Senioren. "Von der Wiege bis zur Urne; turne, turne, turne", heißt ihr Motto.
Fit wie ein Turnschuh - und weit entfernt, diesen an den Nagel zu hängen. Aufhören? "Warum sollten wir?" sagt Turn-Oma Roswitha Wahl. Und Renate Recknagel, ihre kongeniale Partnerin im weltweit wohl ältesten Synchron-Turnduo, stimmt ihr fröhlich lachend zu. "Das wäre doch blöd; wir leben einfach und turnen." Man könnte sogar sagen: Turnen ist ihr Leben, die Show-Bühne ihr Jungbrunnen und das Publikum das Elixier, das fast an die ewige Jugend glauben lässt. Oder wie es "Rosi & Renate" getreu dem Turner-Spruch nennen: "Von der Wiege bis zur Urne; turne, turne, turne."
Flickflack? Aus dem Alter sind sie raus
Sternspagat und Handstand - kein Problem für die Sportlerinnen der Generation G (wobei G für Großmütter steht), die sich mit einer entsprechenden Perfomance gleicht gut einführten beim Besuch im NDR Sportclub. Aber einen Flickflack? "Nö, aus dem Alter sind wir raus", so die prompte Antwort aus doppeltem Munde.
Ein Kopfstand ist dagegen eine leichte Übung, selbst auf dem harten Studioboden. Dabei hatte Rosi einst geunkt: "Einen Kopfstand? Niemals können wir den machen." Doch das Ende vom Lied sei: Heute machen sie ständig Kopfstand - sogar zu Hause auf dem Stuhl.
Eine Übung locker vom Hocker sozusagen für die späten Medienstars, die in den nächsten Tagen förmlich rumgereicht werden in diversen TV-Sendungen. Damit nicht genug: Ihr Video im Instagram-Kanal Frauensport.inside des NDR hat fast eine Million Abrufe - Influencerinnen des Seniorensports. Aber angefangen hat alles für die Ü80-Sportlerinnen vor einer gefühlten Ewigkeit ganz seriös im Kunstturnen.
Bremens beste Kunstturnerin
Als junge Frau war Renate Recknagel in den 1950er- und 1960er-Jahren Bremens beste Kunstturnerin und wurde zehn Jahre hintereinander Landesmeisterin. Doch dann war Schluss mit dem Leistungsturnen. "Das war damals einfach so", erzählt sie, "wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hatte." Einfach so? Unvorstellbar aus heutiger Sicht. Kurzerhand machte sie mit Mitte 20 ihre Fachlizenz als Kunstturn-Trainerin und fand Spaß daran, Kinder zu unterrichten.
Wie es der Zufall so wollte, war eines dieser Kinder die fünfjährige Tochter von Roswitha Wahl. Auch Rosi, wie sie kurz genannt wird, war Trainerin bei Bremen 1860, einem Traditionsverein der Hansestadt. Das ist rund ein halbes Jahrhundert her - und der Beginn einer innigen Freundschaft, die längst ihre eigene sportliche Erfolgsgeschichte schreibt. Die allerdings so richtig erst begann, als die Kinder der Turn-Omas groß waren.
Schmerzhafte Herausforderung
Niemand dachte damals an das gefeierte Synchron-Duo 80+, das beim TV-Supertalent selbst einem Lästermaul wie Dieter Bohlen die Sprache verschlug und in der Show von Fernseh-Doktor Eckart von Hirschhausen Zuschauer und prominente Gäste gleichermaßen staunen ließ. Oder an den legendären Auftritt vorigen Sommer bei der Welt-Gymnaestrada in Amsterdam. 6.000 Zuschauer lagen ihnen bei der weltweit größten Breitensportveranstaltung buchstäblich zu Füßen, als sie ihre Kür auf der Bank mit einem Spagat synchron beendeten. "Das war das Größte", schwärmen sie noch immer.
Die vor Jahren im reifen Alter von Ende 50 wieder aufflammende Turnleidenschaft, entpuppte sich zunächst allerdings als durchaus schmerzhafte Herausforderung. "Ich war völlig aus der Übung“, erinnert sich Renate Recknagel. "Beim Radschlagen haben wir gedacht, es reißt uns die Bauchdecke auseinander." Und: "Bei der ersten Rolle ist uns richtig schwindelig geworden", wirft Rosi ein. "Da haben wir Sterne gesehen." Also gleich wieder aufhören? Weit gefehlt: Gold und Silber beim Deutschen Turnfest 1998 in München spornten an. Und doch lockte die große Bühne; es sollte mehr sein als die 20 deutschen Senioren-Meisterschaften. Der Plan einer Synchron-Kür war geboren.
Farbenfroh auf großer Bühne
Eine "Welt-Idee", wie sich zeigen sollte. Rosi & Renate begeistern seither mit ihrer musikalisch untermalten Show am Barren und auf der Bank - der Turn-Bank wohlgemerkt. Im figurbetonten blauen oder roten Outfit, wie im NDR Sportclub, das mehr einem bestickten Kostüm, denn einem Turnanzug gleicht. Anmut und Grazie(n) im farbenfrohen Turnkleid. Die große Bühne liegt ihnen. "Unseres Wissens sind wir weltweit die Ältesten mit solch einer Show“, so Renate Recknagel.
"Diese Beine!" - hat sogar Bohlen gesagt
"Time To Say Goodbye", heißt zwar die Musik ihrer Barren-Kür, aber ein Indiz für das nahende Ende der Karriere der 168-Jährigen soll das keineswegs sein. "Warum sollte ich daran denken?" so Rosi. "Mir geht es doch gut." Dass das nicht jedem in ihrem Alter gegeben ist, will die 82-jährige Renate mit einem Blick auf gleichaltrige Freunde dann doch noch anmerken: "Da sieht man, was auf einen zukommen könnte." Noch aber ist den beiden 1,60 Meter großen Turn-Omas ihr Alter kaum anzumerken. "Diese Beine!", habe sogar Bohlen gesagt.
Ein schönes Kompliment, meint Rosi Wahl. Mehr noch gefällt es der die 86-jährigen aber zu sehen, wie sich die Schützlinge in ihren zehn Gesundheitskursen verbessern, die sie seit Urzeiten leitet. Hart, aber herzlich - Drückeberger haben bei ihr keine Chance. "Da bin ich knallhart", sagt die gelernte Kinderkrankenschwester, die zwei Kinder bekam, sechs Pflegekinder großzog und 40 Jahre Heilpraktikerin mit eigener Praxis war. Die Hemmschwelle sei manchmal groß. Aber die Zufriedenheit ihrer Schüler rechtfertige ihre Hartnäckigkeit. Was Sportclub-Moderator Martin Roschitz gleich zu spüren bekam, als Rosi bestimmt vorgab: "Ich mache eine Übung vor - und Sie machen die gleich mit!"
Seniorensport ist Rosis Passion
"Rosi hat Schuld", sagt schmunzelnd auch ein Herzpatient voller Dankbarkeit. Nie habe er gedacht, mit 88 Jahren durch den Sport wieder mehr Selbstständigkeit zurückerlangen zu können. Regelmäßiges Ausdauertraining, so Sportmedizin-Professor Uwe Tegtbur, "könne die Belastbarkeit der Körperfunktionen um bis zu 15 Jahre verringern". 30 Prozent an Muskelmasse könnten auch Senioren laut jüngsten Studien zudem zulegen. "Nach jeder Turnstunde gehe ich beglückt nach Hause", sagt Roswitha Wahl. "Dass sie alle wieder so fit geworden sind, ist ein tolles Gefühl."