Steffi Nerius - Gesamtdeutsche Speerwurf-Ikone
Speerwerferin Steffi Nerius war eine der erfolgreichsten Medaillensammlerinnen beim DLV. Ihr Gold-Wurf in Berlin 2009 bescherte der Mecklenburgerin ein Karriere-Ende wie im Märchen.
69 Meter 42. Weltjahresbestleistung 1996. Steffi Nerius warf diese Weite ein paar Tage zu spät. Nicht bei den Olympischen Spielen vom 26. Juli bis 4. August in Atlanta, wo sie als Neunte mit 60,20 Metern und einiger Nervosität den Endkampf der besten Acht im Finale um 54 Zentimeter verpasste. Sondern erst am 10. August 1996 beim Grand Prix-Sportfest in Monaco. Absolute Weltklasse, wenn auch damals noch mit dem "alten" Speer, dessen weiter hinten liegender Schwerpunkt das lange Segeln in der Luft beflügelte. Die junge Frau von der Insel Rügen, damals gerade 24 Jahre alt, hatte schon zuvor ihr herausragendes Talent wiederholt unter Beweis gestellt. Im Jahr vor den Spielen beispielsweise, als sie 1995 den Europacup im französischen Villeneuve d'Asq gewann und sich in die Pole Position für die WM in Göteborg brachte - wo wiederum jene Natalja Shikolenko aus Weißrussland Gold abräumte, die Nerius sieben Wochen zuvor noch um exakt fünf Meter hinter sich gelassen hatte...
Steiniger Weg in die Weltklasse
Weil ihr Talent bekannt war und weil die Leichtathletik beim SC Empor Rostock nach der Wende wenig Perspektive bot, wechselte die frischgebackene Junioren-EM-Dritte Stefanie Nerius - die alle nur "Steffi" rufen - Ende 1991 in den Westen. In der rheinischen Leichtathletik-Hochburg Leverkusen, mit dem Kapital eines Chemie-Weltkonzerns im Rücken, reifte die anfangs zurückhaltende, wiederholt verletzungsanfällige und wenig nervenstarke Wurf-Begabung zur international erfolgreichen Spitzen-Athletin, die Training, Wettkampf, Ausbildung und Beruf in geradezu vorbildlicher Weise in Einklang zu bringen wusste. Günter Piniak bei der SG Empor Saßnitz verdankte sie zunächst ihre leichtathletischen Grundlagen. Dann betreuten - schon in Leverkusen - der früh verstorbene Rudi Hars und schließlich - bis zu Nerius' Karriereende - der im thüringischen Gräfenthal gebürtige ehemalige DLV-Disziplintrainer im Kugelstoßen der Junioren, Helge Zöllkau, die frühere DDR-Schülermeisterin im Volleyball (!) auf ihrem mitunter steinigen Weg in die Weltklasse.
WM-Bronze, Olympia-Silber und EM-Gold
Waren die 90er-Jahre für Steffi Nerius - nicht zuletzt verletzungsbedingt - deutlich mehr Lehr- denn Herrenjahre, gelang ihr bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney mit 64,84 Metern auf Rang vier endgültig der internationale Durchbruch. Seit ihrer Silbermedaille bei der Heim-EM 2002 in München (64,09) stand die sechsmalige deutsche Meisterin bei internationalen Meisterschaften stets auf dem Podest, von den Spielen in Peking 2008 abgesehen. Zu WM-Bronze 2003 in Paris, 2005 in Helsinki und 2007 in Osaka gesellte sich Olympia-Silber 2004 in Athen (mit deutschem Rekord) und EM-Gold 2006 in Göteborg. Deutschlands sympathische Vorzeige-Werferin (mit dem obligaten Stirnband, auf dem sie passend zu Land und Ereignis kurze Grußformeln oder Anfeuerungsworte präsentierte), längst Diplom-Sportlehrerin und beim Werks-Club in Leverkusen als Trainerin in der Behindertensport-Abteilung halbtags berufstätig, überzeugte nicht nur mit Leistungen. Bodenständigkeit, Offenheit, natürlicher Charme und aufrichtige Herzlichkeit zeichnen Nerius als Persönlichkeit aus, die der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) in Anerkennung ihrer Verdienste bereits 2008 mit dem Rudolf-Harbig-Gedächtnispreis ehrte.
WM-Gold zum Karriere-Ende
Da hatte Steffi Nerius den finalen Höhepunkt ihrer langen Karriere noch vor sich. In ihre unwiderruflich letzte Saison 2009 mit der Heim-WM in Berlin im August ging die nunmehr 37-Jährige mit gemischten Gefühlen - und klaren Ambitionen: "Ich bin so gut durch den Winter gekommen wie lange nicht mehr. Einerseits darf ich nicht übertreiben, anderseits will ich in meinem letzten Jahr das Maximale rauskitzeln." Der Rest ist Legende. Nach Siegen bei den Deutschen Meisterschaften Anfang Juli in Ulm, bei den Super Grand-Prix-Meetings in Lausanne und London sowie bei der WM-Generalprobe im heimischen Manforter Stadion in Leverkusen gelang Nerius im WM-Finale gleich im ersten Versuch der große Wurf zu Gold. Und das Olympiastadion bebte. "Es ist echt ein Traum. Es zählt für mich mehr als ein Olympiasieg, wenn Du im eigenen Land Weltmeisterin wirst", jubelte die Glückselige, die vier Wochen später beim Leichtathletik-Weltfinale im griechischen Thessaloniki zum letzten Wurf ausholte. Ein filmreifer, beinahe märchenhafter Abschluss ihrer Karriere, der Steffi Nerius eine ganze Reihe weiterer Ehrungen einbrachte - darunter die zur Sportlerin des Jahres 2009 - und sie endgültig zur Legende ihres Sports machte.
Nahtloser Übergang ins Berufsleben
Auf ihren Lorbeeren ausruhen wird sich Nerius allerdings nicht. Nahtlos gelang ihr im Herbst 2009 der Übergang ins Berufsleben mit einer Vollzeitstelle als Trainerin der Leverkusener Behinderten-Sportler. In Mathias Mester, Markus Rehm, Frank Tinnemeier und Vanessa Low betreut die Weltmeisterin - sozusagen standesgemäß - Spitzen-Athleten, die bei Weltmeisterschaften und bei den Paralympics 2012 Medaillen gewinnen.