Heike Henkel - Losgelöst in großen Höhen
Gewonnen hat sie alles: EM-Gold, WM-Gold, und Olympia-Gold. Aber gelitten hat sie auch. Hochsprung-Ass Heike Henkel, die "kühle Blonde" aus dem Norden.
Sonntag, 24. Juni 1984, Rheinstadion Düsseldorf, Finaltag bei den 84. Deutschen Meisterschaften der Leichtathleten. Und: Wachablösung im Frauen-Hochsprung. Nicht die große Ulrike Meyfarth gewinnt, die siebenmalige Titelträgerin seit 1973, die Überraschungs-Olympiasiegerin von München 1972 und Ex-Weltrekordlerin, die es in jenem Jahr noch einmal wissen will. Es stehen Olympische Spiele an, und Meyfarth plant einen historischen Coup: Zwölf Jahre nach München will sie in Los Angeles noch einmal Olympia-Gold. Aber in Düsseldorf verliert sie gegen eine gewisse Heike Redetzky. Gerade 20 Jahre jung, deutsche Jugend- und Juniorenmeisterin der Jahre 1981 und 1982. Die Kielerin vom TSV Kronshagen überspringt wie Meyfarth 1,91 m, hat aber weniger Fehlversuche. Beide werden für Los Angeles nominiert. Meyfarths geplagte Achillessehnen halten, sie holt - nach den Tiefschlägen von Montreal 1976 (Aus in der Qualifikation) und Moskau 1980 (Boykott) - tatsächlich noch einmal Gold. Henkel wird Elfte, mit übersprungenen 1,85 m. Nicht übel für eine 20-Jährige, die Lehrgeld bezahlt. Aber sie weiß, sie kann mehr.
Mit Ehrgeiz und Gerd Osenberg in die Weltspitze
Die hochaufgeschossene Blondine aus dem Norden bleibt noch ein Jahr in Kiel. Über Turnen, Segeln und Basketball war sie dort zur Leichtathletik gekommen. Sie wird deutsche Hallen-Meisterin 1985 und auch draußen ist vorerst niemand mehr besser als Redetzky. Zum EM-Jahr 1986 wechselt sie nach Leverkusen zu Gerd Osenberg. Der Coach hatte schon Heide Rosendahl 1972 zu Olympia-Gold geführt, die Meyfarth formte er - auch über trostlose Jahre hinweg - zur Ikone des deutschen Frauen-Hochsprungs. Heike Redetzky, die junge Grafikdesign-Studentin, kann keinen besseren Trainer haben. Und Osenberg kaum eine ehrgeizigere Athletin. "Sie springt beständig auf hohem Niveau. Sie macht keine Skandale, geht mit dem Erfolg nach außen hin reserviert, fast kühl um, ist im Umgang mit der Öffentlichkeit vorbildlich, nicht übergeschnappt. Sie ist selbstsicher, selbstkritisch", wird Osenberg später sagen. Und: "Sie kann schlecht verlieren."
Platz sechs bei der Heim-EM
Die Heim-EM in Stuttgart 1986 kommt für Redetzky noch zu früh, sie wird Sechste - ebenso wie bei der WM in Rom im Jahr darauf. Bei ihren zweiten Olympischen Spielen, 1988 in Seoul, reicht es nicht zur Final-Teilnahme. Aber ein Jahr später, beim Kölner ASV-Meeting von Manfred Germar, rückt sie in den "Club der Zwei-Meter-Springerinnen" auf. Da heißt Redetzky schon Heike Henkel.
Schwerelos im Gold-Rausch
Nach der Eheschließung mit dem zweifachen Schwimm-Weltmeister Rainer Henkel (Köln) beginnt mit Gold bei der EM Ende August 1990 in Split (1,99 m) die große Zeit der Vorzeige-Hochspringerin. Auf Gold bei der Hallen-WM 1991 in Sevilla (2,00 m) folgt der unangefochtene Sieg bei der WM 1991 in Tokio mit deutschem Rekord von 2,05 m. Sieben Zentimeter springt Henkel höher als die Zweitplatzierte Jelena Jelesina (Russland). Das hatte nicht einmal Stefka Kostadinowa bei ihrem Weltrekordsprung (2,09) zum Titelgewinn in Rom 1987 vollbracht. "Ich spüre die Erde nicht mehr unter den Füßen, bin wie losgelöst, allein, unendlich frei. Über den Rücken rinnen mir Schauer. Mein Körper ist nur noch Gefühl", schildert Henkel ihre Schwerelosigkeit. Und es geht noch weiter, höher: Über 2,03 und 2,04 m floppt Henkel Anfang Februar 1992 in Karlsruhe zum Hallen-Weltrekord - 2,07. 14-mal überquert die 27-Jährige in der Olympia-Saison 1992 2,02 m oder mehr. Wer, wenn nicht sie, sollte in Barcelona gewinnen? Doch der Olympia-Wettkampf wird zum Nervenkrieg. Gegen ihre Achillessehnenschmerzen bekommt Henkel Spritzen, über 1,97 m benötigt die Top-Favoritin schon den dritten Versuch. Aber sie schafft die Höhe. Kostadinowa scheitert. Dann ist der Weg frei zum Gold. 2,02 m überspringt nur die "kühle Blonde aus dem Norden".
Comeback nach Familien-Glück
Henkel ist die Nummer eins, wird überschüttet mit Auszeichnungen und Ehrungen: "Welt-Leichtathletin des Jahres", "Sportlerin des Jahres", Rudolf-Harbig-Gedächtnispreisträgerin. Gesamt-Grand-Prix-Siegerin war sie schon als Weltmeisterin. Sie verdient gut, manche sprechen von Millioneneinkünften. Zum Familien-Glück fehlt nur noch der Nachwuchs. Ihr Geheimnis lüftet Heike Henkel bei der Heim-WM 1993 in Stuttgart, wo sie als Letzte der Qualifizierten (1,90) auf das Finale verzichtet. Sohn Ravn kommt Ende Februar 1994 zur Welt; zu schnell will Henkel danach zurück zum Sport. Das rächt sich: Bei der EM in Helsinki schafft sie als Elfte nur 1,85 m, bei der WM ein Jahr später in Göteborg verpasst sie trotz 1,93 m das Finale. Der Anfang vom Ende? Noch nicht, will Henkel glauben machen. Doch 1996 reicht es nicht einmal mehr zur Olympia-Teilnahme. Entnervt, auch vom öffentlichen Druck, tritt sie im August 1996 in Köln zurück. Um nach der Geburt ihres zweiten Sohnes Morten im Jahr 1997 ein Comeback zu wagen. Noch einmal, zum zehnten Mal, wird sie 1999 deutsche Meisterin. Mit 1,99 m klopft sie, erneut unter der Obhut von Osenberg, noch einmal ans Tor zur Weltklasse. Öffnen kann sie es indes nicht wieder.
Bodenständigkeit trotz Prominenz
35-jährig gibt Henkel ihrem Leben eine neue Wendung. Längst getrennt von Ehemann Rainer, findet sie 1999/2000 mit Ex-Zehnkämpfer Paul Meier zusammen. Beide engagieren sich mannigfaltig in öffentlicher Funktion für "ihren" Sport und werben nachdrücklich für dessen Sauberkeit. "To be top without doping" hatte Henkel schon zu aktiven Zeiten zu ihrem Motto gemacht. Deutschlands erfolgreiche Ex-Hochspringerin bleibt vielseitig gefragt - als ARD-Kolumnistin, (ehemaliges) Vorstandsmitglied der Nationalen Anti-Doping-Agentur (NADA), Talkshow-Gast, Testimonial für PR-Kampagnen, Tanz-Partnerin im TV-Contest und Selfmade-Unternehmerin für Gesundheits-Sport. Die diplomierte Grafik-Disignerin hält Vorträge über Motivation, Erfolg und Misserfolg. Und sie wird ein drittes Mal Mutter. Marlene heißt die Tochter des Leichtathletik-Paares, das beides genießt: seine Prominenz und mehr noch seine Bodenständigkeit, aller Popularität zum Trotz.