Hamburger Boxidol Jürgen Blin: Adrenalin pur im Kampf gegen Ali
Er kam von ganz unten und durfte gegen den "Größten" boxen. Am 26. Dezember 1971 forderte Jürgen Blin den mächtigen Muhammad Ali heraus. Sieben Runden hielt er durch. Anfang Mai 2022 verstarb das Hamburger Boxidol.
Es steht nicht gerade zum Besten um Jürgen Blins Boxkarriere, als das Angebot seines Lebens ins Haus flattert. Zweimal hat er um die EM im Schwergewicht geboxt, beide Male hat er denkbar unglücklich verloren. Im Juni 1970 hatte er als krasser Außenseiter vor 20.000 Zuschauern in Barcelona den K.o.-König José Manuel "Urtain" Ibar gefordert - und den Basken, dem dennoch ein äußerst zweifelhafter Punktsieg zugesprochen wurde, über 15 Runden entzaubert.
Ein Jahr später dominierte Blin in London auch den Kampf gegen den neuen Europameister Joe Bugner - und unterlag auf fremdem Terrain erneut knapp nach Punkten. Heute vor 52 Jahren, am 26. Dezember 1971, folgt in Zürich schließlich der Kampf, den Blin nicht als seinen wichtigsten einstuft; der ihn aber aus der Frustration reißt und berühmt macht.
Mehr harter Arbeiter denn Weltklasseboxer
Blin tritt gegen Muhammad Ali an. Der Amerikaner hat wenige Monate zuvor gegen Joe Frazier verloren und muss wieder für einen WM-Kampf aufgebaut werden. Blin, der in Europa einigermaßen bekannt ist, Ali aber nicht wirklich gefährlich werden kann, ist ein geeigneter Kandidat. "Das war schon eine Überraschung. Das kann man nicht beschreiben, das war eine Riesensache. Ali war eine Ikone. Aber ich war keiner, der zurückschreckt", erzählte Blin dem NDR Sportclub.
"Ich bin mit der Einstellung in den Kampf gegangen, gib' Gas und mach' Feuer, vielleicht triffst Du ihn hart. Angriff ist die beste Verteidigung." Jürgen Blin
Im Ring versteckt sich der flinke Deutsche nicht, teilt Schläge aus und zeigt keinerlei Angst. "Das war Adrenalin pur", beschrieb er: "Ich bin mit der Einstellung in den Kampf gegangen, gib' Gas und mach' Feuer, vielleicht triffst Du ihn hart. Angriff ist die beste Verteidigung." Dennoch ist der deutsche Meister im Schwergewicht von 1968, immer mehr harter Arbeiter denn ein Weltklasseboxer, Ali boxerisch und körperlich klar unterlegen. In der siebten Runde folgt der erste Knock-out seiner Karriere.
"Ich bin ein zu hohes Tempo gegangen, war ausgehöhlt. Wenn ich ruhiger geboxt hätte, wäre es eventuell länger gegangen. Aber was soll's. Sieben Runden steht nicht jeder gegen Ali, der hat seine Gegner meistens in der zweiten oder dritten Runde ausgeknockt", schilderte Blin.
"Der Traum, ihn zu schlagen, bestand nicht"
Enttäuscht über die Niederlage und den Niederschlag ist der Hamburger nicht: "Das war mehr Erlösung, schätze ich. Denn der Traum, ihn zu schlagen, bestand nicht. Ich wusste genau, dass ich keine Chance habe", erklärte er: "Er war größer, schwerer und hatte die bessere Technik. Aber ich wollte ihn unbedingt boxen." Während "The Greatest" seine sagenhafte Legende fortschreibt, erfreut sich Blin an seinen Erinnerungen und seiner größten Kampfbörse von 180.000 Mark: "Das war viel Geld damals und schon wieder ein halbes Haus", sagt er.
Am nächsten Tag arbeitet er wieder als Schlachter im eigenen Geschäft: "Ich war ja Halbprofi, hatte vor wichtigen Kämpfen vier Wochen unbezahlten Urlaub. Aber wenn ich Freitag oder Sonnabend geboxt habe, war ich Montag wieder auf Arbeit und habe da meine Würstchen fabriziert."
Enormes Stehvermögen und unbedingter Wille
Enormes Stehvermögen und unbedingter Wille sind die Qualitäten, die Blin auszeichnen. Heute würde der Linksausleger mit seinem Kampfgewicht von 85 Kilo im Cruisergewicht eingeordnet. Doch dank seines mutigen Kämpferherzes und seiner großartigen Moral feiert er trotz körperlicher Unterlegenheit und damit einhergehender fehlender Schlaghärte auch im Schwergewicht internationale Erfolge. So gewinnt das Hamburger Boxidol im Juni 1972 in seinem "größten Kampf" (O-Ton Blin) gegen Urtain im dritten Anlauf doch noch den Europameisterschafts-Titel. "Ich war nie ein Talent, musste immer hart arbeiten. Ich wollte mit Gewalt raus aus dem Dreck", sagte er.
Mit 14 von zu Hause weg
Dreck, damit meint der auf Fehmarn geborene Blin sein Elternhaus. Sein Vater war Melker und schwer alkoholkrank, die Familie musste deshalb häufig umziehen. Der Sohn erhält Prügel, muss morgens die Kühe versorgen. In der Schule wird er von den immer wieder neuen Klassenkameraden gemobbt. Mit 14 läuft er von zu Hause weg, heuert auf einem Schiff an. "Ich habe es nicht mehr ausgehalten, wollte nur weg von zu Hause. Ich habe als Schiffsjunge mit 100 Mark im Monat angefangen", erzählte er und beteuerte: "Ich will nie wieder unter 15 sein. Es ist sehr schwer, alles selber zu machen, ich habe viel Lehrgeld bezahlt. Wenn ich über Bord gegangen wäre, hätte kein Hahn danach gekräht."
Zurück in Hamburg bekommt er bei einem Fleischermeister eine Lehrstelle und Unterkunft. Für Blin ein Wink des Schicksals: Gegenüber der Fleischerei ist eine Boxhalle. Dort investiert er seine ganze Energie, seinen ganzen Ehrgeiz. 1964 wird er deutscher Amateurmeister im Schwergewicht und wechselt ins Profilager. "Ich habe die ganze Welt gesehen durch das Boxen. Mit meinem Beruf als Fleischer hätte ich das nicht geschafft", sagte er.
Rückschläge nach der Karriere
1973, mit Anfang 30, beendet Jürgen Blin seine Boxkarriere. Acht Jahre Schwergewicht haben Spuren hinterlassen. Ein zerfurchtes Gesicht, eine lädierte Nase. Vor allem "aber auch Dankbarkeit", betont Blin. Rückschläge muss er dennoch verkraften. Viel Geld hat Blin während seiner aktiven Zeit verdient, zwischenzeitlich besitzt er in Hamburg sechs Imbissbuden. Doch durch eine Bürgschaft für die geschäftlichen Aktivitäten zweier seiner drei Söhne verliert er sein hart verdientes Vermögen auf einen Schlag.
Schließlich folgt der größte Tiefschlag: Blins Sohn Knut, ebenfalls ein Profiboxer, der 1990 die Internationale Deutsche Meisterschaft gewann, stürzt sich 2004 aus dem zwölften Stock einer psychiatrischen Klinik am Bodensee in den Tod. "Manische Depression. Wir konnten ihm nicht helfen", sagte Blin, der seinem Sohn das Talent zubilligt, das ihm selbst gefehlt habe: "Der Knut wäre ein richtig Guter geworden."
"Ali ist für immer eine Ikone"
Zu Muhammad Ali, der 2016 starb, hatte er nach dem Kampf unregelmäßigen Kontakt. "Ab und zu haben wir uns nochmal gesehen. Aber dann nicht mehr, weil er an Parkinson leidet und so krank ist", erzählte Blin 2011 und erinnerte sich: "Im Vorfeld war er eiskalt und machte seine Späßchen. Aber nach dem Kampf war das okay. Er war schon sehr sportlich, muss ich sagen, auch während des Kampfes. Er ist für immer eine Ikone."
Am 7. Mai 2022 starb Jürgen Blin im Alter von 79 Jahren an den Folgen eines Nierenleidens. Bis zuletzt hatte er junge Box-Talente in Hamburg trainiert.