Astrid Kumbernuss: Ästhetin im Kugelstoß-Ring
Astrid Kumbernuss hat das Kugelstoßen salonfähig gemacht. Im Ring stand die Europameisterin, dreimalige Weltmeisterin und Olympiasiegerin für Ästhetik und historischen Erfolg. Nur der Abschied fiel der Neubrandenburgerin schwer.
Einen ihrer glücklichsten Momente erlebte Astrid Kumbernuss am 7. Juli 1998, kurz vor der Leichtathletik-EM in Budapest: Sie gebar ihren Sohn Philip. Ein Jahr später holte sie ihr drittes WM-Gold im Kugelstoßen. Nach Göteborg 1995 und Athen 1997 triumphierte die Neubrandenburgerin - zu ihrer eigenen Überraschung - auch 1999 in Sevilla. Nie zuvor war einer Kugelstoßerin ein solcher Hattrick gelungen. Gold bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta hatte die sportliche Karriere der "großen Blonden" aus dem Norden Mecklenburgs zuvor bereits gekrönt. Doch das Mutterglück im Alter von 28 Jahren bedeutete den Wendepunkt in der denkwürdigen Karriere der gelernten Einzelhandelskauffrau. So stark wie zuvor war sie danach im Ring nie mehr.
Die beinahe kompromisslose Härte gegen sich selbst - vor allem im Training - brachte sie nach Beobachtung ihres Trainers (und damaligen Lebensgefährten) Dieter Kollark nicht mehr auf. Zehn Jahre lang hatte sich Kumbernuss da schon geschunden, zu Beginn ihrer Laufbahn Diskus-Silber bei den Junioren-Europameisterschaften 1987 und -Weltmeisterschaften 1988 sowie Gold mit Kugel und Diskus bei der Junioren-EM 1989 gewonnen.
Die Wiederentdeckung des Weiblichen
"Sie lebt von den Beinen. Sie ist sprint- und sprungstark und in dieser Frage vielleicht heute schon Weltspitze", erkannte Kollark damals, als Kumbernuss kurz vor der Junioren-EM mit 20,54 m den bis heute gültigen Junioren-Weltrekord im Kugelstoßen aufstellte und dieser Disziplin seither den Vorrang gab. Mit Erfolg: Bei der EM 1990 in Split ließ sie Kugelstoß-Gold (20,38) folgen. Schnelligkeit und Sprungkraft auf der einen, Ästhetik und Anmut auf der anderen Seite: Mit diesen Eigenschaften entwickelte sich Astrid Kumbernuss im Laufe der Jahre beim SC Neubrandenburg unter Kollark, der sich in den vergangenen Jahren immer wieder mit Stasi- und Doping-Vorwürfen konfrontiert sah, zum Welt-Star einer Disziplin, die jahrelang ein Schattendasein gefristet hatte. Die Norddeutsche machte das Kugelstoßen salonfähig, holte es in der so genannten postanabolen Phase gewissermaßen aus der Schmuddelecke. "Der größte Muskel eines Sportlers ist der Wille", war ihr Motto.
Karriere auf der Kippe
Der Aufstieg von Astrid Kumbernuss in die Weltspitze begann mit einem Karriereknick. Nach Rang zwei bei ihrem ersten Start für die gesamtdeutsche Mannschaft im Europapokalfinale 1991 in Frankfurt/Main verhinderte eine Handverletzung ihren Auftritt bei der WM 1991 in Tokio. Den Traum vom Edelmetall bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona musste die aufstrebende Athletin nach einem Kreuzbandriss im Knie begraben. Reduzierte Sporthilfe-Förderung war die Folge. Und Sponsoren zu finden war nach der weltweit aufsehenerregenden Dopingaffäre Krabbe/Springstein ein Ding der Unmöglichkeit.
Buchstäblich aus wirtschaftlicher Not heraus eröffnete die Kugelstoßerin von ihren Ersparnissen ein Sportgeschäft in Neubrandenburg: Mehr Arbeit, weniger Zeit fürs Training. Dennoch kehrte Kumbernuss 1993 mit WM-Rang sechs (19,42 m) in die erweiterte Weltklasse zurück. Die bestätigte sie mit dem Sieg beim Europacupfinale 1994 in Birmingham und Silber bei der EM im selben Jahr in Helsinki. Zwangsläufig - nach Kreuzband- und Meniskusoperation - setzten Kollark und Kumbernuss neben sehr dosiertem Krafttraining auf eine vielseitige Ausbildung mit Sprints, Sprüngen und Dauerläufen. "Im Vergleich zu anderen Kugelstoßerinnen bin ich ein Schlappschwanz", ulkte die Mecklenburgerin, deren Glanzzeit dann 1995 begann.
Gold und Geld für Kumbernuss
Drei WM-Goldmedaillen zwischen 1995 und 1999, der Olympiasieg in Atlanta 1996 und 53 Wettkämpfe in Folge ohne Niederlage Mitte der 1990er-Jahre machten Kumbernuss zur erfolgreichsten - und bestverdienenden - Kugelstoßerin aller Zeiten. Nach der ersten Titelverteidigung bei der WM in Athen und dem mit 200.000 Dollar dotierten Grand-Prix-Gesamtsieg in Fukuoka (Japan) wurde die Neubrandenburgerin 1997 auch zu Deutschlands Sportlerin des Jahres gewählt.
Doch neben dem finanziellen Reiz fühlte sich Kumbernuss stets auch berufen, ihre Disziplin aus dem Abseits staubiger Nebenplätze zurückzuholen in die Stadien und vor Publikum. "1995/96 bin ich soviel getingelt, für wenig und manchmal auch gar kein Geld", erinnert sich Kumbernuss, "um den Leuten zu zeigen: Euer Bild im Kopf ist falsch." Sie, die selbst die Männerkugel aus dem Stand fast 14 Meter weit stieß, galt damals schon seit Jahren als beste Technikerin der Welt: "Sie ist schnell und stößt unheimlich sauber", lobte DLV-Trainer Karl-Heinz Leverköhne. Noch einmal legte Kumbernuss olympisches Edelmetall nach: Bronze bei den Spielen in Sydney 2000. Es blieb ihr letztes.
Abgang von der großen Sportbühne 2005
Trotz des Sieges beim Grand-Prix-Finale 2001 konnte sie an die Erfolgsserie früherer Jahre nicht mehr anknüpfen. Auf Rang vier bei der Heim-EM 2002 in München folgte ihr tränenreiches Aus in der Qualifikation der WM 2003 in Paris. Auch ihr Versuch, noch einmal bei Olympischen Spielen aufzutrumpfen, endete 2004 in Athen - nach längerer vorheriger Verletzungspause - mit einem Fiasko. Erst 2005 war Kumbernuss, deren Bestleistung bei 21,22 m liegt, bereit für den Abgang von der großen Bühne des Sports. "Jetzt wird die Kugel im Garten vergraben, und es beginnt ein neues Leben", sagte sie.
"Tolle Momente sind sicherlich die Weltmeistertitel, vor allem 1999, als unser Sohn schon geboren war. Der Olympiasieg 1996, dieses Bewusstsein, ein bisschen Geschichte geschrieben zu haben. Daran wächst man auch immer noch und zieht sich manchmal auch daran hoch. Die vielen Niederlagen, die im Sport dazugehören, verblassen immer mehr, aber sie haben mich definitiv geprägt." Astrid Kumbernuss zu ihrem 50. Geburtstag
Mecklenburgerin durch und durch
Die gelernte Einzelhandelskauffrau studierte Pflegewissenschaften und Pflegemanagement an der Neubrandenburger Fachhochschule, heute ist sie gemeinsam mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten Kollark Trainerin von Diskuswerferin Claudine Vita, kümmert sich um die Sponsoren-Akquise beim SC Neubrandenburg und ist dort zudem Sportwartin der Leichtathleten. Außerdem kümmert sie sich um die Werfer der chinesischen Nationalmannschaft, wenn diese im Sommer in Deutschland sind. "Da kann man kein Moos ansetzen", so die zweifache Mutter, die dem SC Neubrandenburg immer treu blieb: "Natürlich gab es Angebote, aber als Mecklenburgerin bin ich bodenständig, ein Urgewächs. Hier fühle ich mich wohl, hier kenne ich die Menschen."
50. Geburtstag "schon etwas Besonderes"
Ihren 50. Geburtstag am 5. Februar 2020 nahm Deutschlands erfolgreichste Kugelstoßerin gelassen und freute sich: "Den Tag selbst mache ich ganz ruhig. Das ist immer so, denn es ist mein Tag. Zwei Tage später kommen Freunde, Bekannte, ehemalige Athleten und Trainerkollegen nach Neustrelitz, die mich die vielen Jahre begleitet haben. Ich bin nicht so der Feiertyp, aber das wird eine schöne Runde. Wir werden Spaß haben und uns ein bisschen erinnern", sagte sie dem NDR. Die 50 sei "schon irgendwie etwas Besonderes", so Kumbernuss: "Es verändert sich einiges so langsam. Man wird auf der einen Seite gelassener und regt sich nicht mehr über alles so richtig auf, aber man braucht morgens im Bad schon ein bisschen länger und dann zieht's auch mal an ein paar Stellen im Körper." Dennoch fühle sie sich "jung und dynamisch".
"Der Sport hat mein Leben geprägt und prägt es immer noch. Wenn ich zurückschaue, ist das schon einzigartig und da ist auch ganz viel Stolz dabei. Es ist ein sehr bewegtes Leben gewesen, mit Höhen und Tiefen, mit ganz viel Adrenalin und natürlich auch Schmerzen. Das gehört auch dazu." Astrid Kumbernuss zu ihrem 50. Geburtstag
"Sportlich alles erreicht, was ich wollte"
Der Leichtathletik hält Kumbernuss weiter die Treue. Gemeinsam mit Kollark will die Kugelstoß-Ikone Claudine Vita "zu den Olympischen Spielen bringen, und das erfolgreich". Was wünscht sich Kumbernuss für sich persönlich? "Dass ich fit und gesund bleibe, viele schöne Momente erlebe und manchmal auch ein bisschen mehr Ruhe finde. Dann bin ich eigentlich rundherum zufrieden." Alles, was sie sportlich erreichen wollte im Leben, habe sie geschafft, und auch privat sei "alles top. Jetzt baue ich mir drumherum ein bisschen was auf und möchte eine Zufriedenheit finden, sodass ich dann am Wochenende abends beim Glas Wein sitze und sage, 'Das war eine tolle Woche. Und am Montag geht's weiter!'".