Jedes zweite Tor nur Zufall: Fluch oder Chance im Fußball?
Der Zufall spielt mit im Fußball, sagt eine Studie der Kölner Sporthochschule. Bis zu 50 Prozent der Tore basieren auf Glück und Pech - auch in der Bundesliga. Der Hamburger Trainer Andreas Bergmann hat dazu seine eigene Auffassung: "Sieger sprechen nie von Zufall."
Sind Technik, Taktik, Einsatz, Motivation und Spielwitz im Fußball womöglich nur halb so wichtig, weil fast 50 Prozent der Tore sowieso nur zufällig fallen? Genau das behauptet eine Studie der Kölner Sporthochschule (DSHS), die zwischen 2012 und 2019 nicht weniger als 7.000 Tore in der englischen Premier League ausgewertet hat - mit dem Ergebnis: "Manche Tore wirken gut herausgespielt, andere erscheinen dagegen eher zufällig", so DSHS-Institutsleiter Daniel Memmert im NDR. Für manchen Fußball-Anhänger wie den früheren St.-Pauli-Trainer Andreas Bergmann eine eher gewagte These - für andere eine Erkenntnis, an die sie sowieso schon immer geglaubt haben.
Chance für Schwächere: Glück und Pech spielen immer mit
“Glück und Pech sind im Fußball oft ausschlaggebend”, wusste Weltmeister Mats Hummels schon vor Jahren. Ein Reizthema ist es geblieben, aber wahrscheinlich auch "ein Geheimnis für die weltweite Popularität des Spiels, weil auch schwächere Mannschaften gewinnen können", meint Sportwissenschaftler Memmert. Tatsächlich zeigt allein die Bundesliga Woche für Woche, dass es jedes Team erwischen kann: ein abgefälschter Schuss, eine Hand am falschen Ort oder ein Ball, der vom Gebälk dem Gegner einschussbereit vor die Füße fällt.
Anteil an Zufallstoren ist gesunken
Eine weitere Erkenntnis der systematischen Studie, die nach Angaben der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" 2.451 Spiele berücksichtigt hat und laut einer punktuellen Untersuchung auch für die Bundesliga relevant sein soll: Der Anteil an Zufallstoren ist während der untersuchten sieben Spielzeiten von 50 auf 44 Prozent gesunken. Ein Grund könnte, so Memmert, die Spielvorbereitung sein, die stetig professioneller und datenbasierter werde - oder womöglich die technisch und taktisch immer besser ausgebildeten Spieler.
"Wir glauben, dass alles einen Tick besser planbar geworden ist, Stärken und Schwächen schon im Vorfeld bekannt und die Mannschaften gut darauf eingestellt sind." Kurzum: Das Spiel ist berechenbarer geworden.
Originelle Entscheidungen sind gefragt
Dabei stellt sich der Einfluss des Zufalls auf die Entstehung von Toren in der Premier League, wo viele der weltbesten Kicker der Welt spielen, genauso ausgeprägt dar wie in der Bundesliga. "Was uns einigermaßen erstaunt hat", so die Wissenschaftler. Hier wie dort werde der Zufall weiterhin von Faktoren bestimmt, die nicht zwingend trainiert werden können, meint der Chef des Instituts für Trainingswissenschaft und Sportinformatik in Köln. Bei schwächeren Teams sei der Zufall zudem ausgeprägter. "Weil die Qualität der Akteure immer wichtiger wird, wenn alles besser geplant werden kann", erklärt Memmert: "Wir glauben, dass man dem Zufallsfaktor, der nach wie vor vorhanden ist, auf jeden Fall so etwas wie Kreativität, originelle Entscheidungen entgegensetzen muss."
Trainer Bergmann: "Den Zufall bekämpfen"
Das sieht Bergmann nicht wesentlich anders, obschon er der Zufalls-Definition, die der Studie zugrunde liegt, wenig abgewinnen kann. "Ich will vom Zufall nicht abhängig sein", sagt der Trainer des Hamburger Oberligisten Altona 93. "Ich muss ihn hier und da tolerieren, na klar. Aber ich will ihn bekämpfen können. Deshalb trainieren wir Koordination, Schnelligkeit und Geschicklichkeit, aber auch das schnelle Reagieren auf unerwartete Situationen." Bergmann will Einfluss nehmen und sich dem Zufall nicht ergeben. "Nachsetzen, auch wenn es aussichtslos erscheint. Den Zufall auch als Chance sehen."
Forscher: Ohne Zufall wäre es langweilig
Das ist auch das Credo von Zufallsforscher Bernhard Weßling, der eigentlich als Chemiker, Kranich-Experte und Unternehmer unterwegs ist. "Wenn ich den Zufall akzeptiere", so der begeisterte Hobby-Torwart, "kann ich mich auch darauf vorbereiten, dass ständig etwas Neues passiert." Ohne Zufälle wäre das Leben langweilig, und mancher Fußballer sicherlich nicht da, wo er heute ist. Vielleicht nicht gerade langweilig, aber weniger reizvoll wäre ohne Zufall bestimmt auch der Fußball, meint Memmert. Anders als beispielsweise im Handball, weil dort ungleich mehr Tore fallen und die Bedeutung des einzelnen Treffers dadurch weniger gravierend erscheint.
"Kein Sieger spricht vom Zufall"
Aber was sagt Bergmann dazu, wenn man auf einen Schnürsenkel tritt und dadurch in aussichtsreicher Lage wie vom Blitz getroffen auf den Rasen fällt? Ein Missgeschick, das er als Spieler aus eigener Erfahrung kennt: "Das war tatsächlich Zufall, das konnte keiner vorhersehen und trainieren", sagt er. Über Eis und Schnee statt grünem Rasen denkt der 63-Jährige dann aber doch ganz anders.
"Kein Sieger spricht vom Zufall" sagt er in Erinnerung an das denkwürdige Pokal-Viertelfinale im Januar 2006, das St. Pauli unter widrigen Verhältnissen am Millerntor gegen Werder Bremen gewann und die Kiezkicker erstmals ins Halbfinale führte. "Es war viel Zufälligkeit vorhanden, weil keine Standfestigkeit gegeben war. Aber man war darauf vorbereitet", so der damalige Trainer. "Deswegen ist Fußball für mich auch nicht würfeln und sagen: 'Okay, 50 Prozent ist Zufall.'"
"Kobra" Wegmanns zufällige Weisheiten
Und wie nennt man es, wenn eine im Volksparkstadion geworfene Papierkugel scheinbar die Schuld dafür trägt, dass der Hamburger SV das UEFA-Pokal-Halbfinale in der Saison 2008/09 verliert - und das auch noch gegen den Erzrivalen Werder Bremen? Man könnte erneut die Zufallsthese heranziehen - oder es aus Hamburger Sicht einfach so sehen wie der frühere Mittelstürmer Jürgen "Kobra" Wegmann: "Erst hatten wir kein Glück, und dann kam auch noch Pech dazu."