Vor 30 Jahren: DDR-Pokalfinale unter dem Brennglas der Wende
Mit ihren Gedanken waren die meisten Fußballer, Zuschauer und sonst wie Beteiligten eigentlich ganz woanders. Das Finale im FDGB-Pokal stand auf dem Spielplan an diesem 2. Juni 1990 - die 39. und vorletzte Auflage und zum letzten Mal in der sich auflösenden DDR. Doch die Partie zwischen dem Zweitligisten PSV Schwerin und Meister Dynamo Dresden wollten in Zeiten der Ungewissheit und Verunsicherung nicht einmal 6.000 Zuschauer im Berliner Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark miterleben. "Den Schweinsgalopp, in dem die Änderungen vollzogen wurden, konnte niemand ausblenden", erinnert sich der ehemalige Dynamo-Stürmer Ralf Minge an die Vorzeichen eines besonderen Endspiels, das die Sachsen mit 2:1 gewannen. Mit Glück, das manchem auf dem Weg in die neue Lebenswirklichkeit schließlich verloren ging.
Ein Spiel zum Systemwechsel
Vielleicht war es damals ein bisschen so wie heute in der Corona-Krise. Den Osten der Republik bewegte anderes als Fußball, Wichtigeres. Die D-Mark sollte kommen, die Wiedervereinigung verhandelt werden - es gab reichlich Neues zu erleben, zu lernen und zu bewältigen sieben Monate nach dem Mauerfall. "Einige kamen damit zurecht, andere nicht", sagt Steffen Baumgart in der Sportclub Story. Der damals 18-Jährige wusste, dass er einen neuen Beruf lernen musste. Doch "in die Hosen geschissen" habe er sich, weil "ich im Spiel total überfordert war und gar nicht wusste, wohin ich laufen sollte", so der heutige Bundesligatrainer des SC Paderborn, der damals für Schwerin spielte.
Schwerin war heiß, der Trainer besessen
"Auf einmal sind wir vom Sozialismus in ein System gekommen, wo wir alles alleine entscheiden und regeln mussten", erinnert sich Manfred Radtke, der Trainer des Überraschungsfinalisten aus Mecklenburg. "Mit der sozialen Marktwirtschaft mussten wir klarkommen - aber auch mit dem uns unbekannten Wort Arbeitslosigkeit." An diesem Sonnabend aber dachte Radtke einzig an den Pokal. Mehr noch als seine Spieler sei er "heiß auf den Pott" gewesen. "Keiner kann sich vorstellen, wie besessen ich war", sagt der inzwischen 65-Jährige. Wer die Szenen in der Sportclub Story sieht, in der "Vulkan Radtke" im menschenleeren Stadion nachstellt, wie er sein Team motiviert, kritisiert und nach vorne gepusht hat, glaubt ihm das sofort.
Träume und Dramen
Im Jahn-Sportpark standen sich zwei ungleiche Mannschaften gegenüber - und dennoch entwickelte sich ein FDGB-Endspiel auf Augenhöhe. Zumal André Kort die im grünen Dress mit dem Werbeaufdruck eines westdeutschen Erotik-Magazins spielenden Schweriner nach fünf Minuten in Führung brachte und Dresdens Regisseur Hans-Uwe Pilz kurz nach der Pause vom Platz gestellt wurde. Doch Jörg Stübner und Ulf Kirsten trafen für den achtmaligen DDR-Meister und sorgten für Dynamos Double. Es sollte der bis dato letzte große Titel der Sachsen sein. Weit schlimmer noch als für den glorreichen Fußball-Club, der sich nach einigen Bundesligajahren zwischenzeitlich in der Viertklassigkeit wiederfand, kam es für Stübner. Während seine Kollegen Kirsten und Matthias Sammer, aber auch der Schweriner Matthias Stammann, der im Cup-Finale 1990 ein überragendes Spiel machte, von Bundesligisten umworben wurden, zerbrach der DDR-Nationalspieler mit dem kollabierenden System.
Trainer Radtke: "Die Wende nicht geschafft"
"Der beste Spieler, der es nicht geschafft hat", sagt Reiner Calmund lapidar. Als Manager von Bayer Leverkusen war der 71-Jährige damals so geschäftstüchtig im Fußball des Ostens unterwegs, dass ihn Bundeskanzler Helmut Kohl sogar ermahnt haben soll, es mit seinen Aktivitäten nicht zu übertreiben. Stübner starb im Sommer 2019, nachdem er jahrelang unter Depressionen gelitten hatte. Auch das Leben der Schweriner Dirk Gottschalk und Sven Buchsteiner endete früh; beide kamen im vereinten Deutschland nicht zurecht. "Sie haben die Wende nicht geschafft", sagt Radtke und schweigt für einen Moment. "Schrecklich!"
Minge: "Haben allesamt Lehrgeld gezahlt“
Eine Schar Berater und Vertreter tourte kurz nach der Wende durch die DDR. 50.000 mochten es wohl gewesen sein. Es herrschte Goldgräberstimmung, auch im Fußball. Beim Pokal-Endspiel 1990 drängten sich auf den Tribünen die Scouts - auf der Suche nach neuen Schnäppchen. "Was wird, wer wechselt wohin. Das war schon Wochen vor dem Finale das beherrschende Thema", sagt Minge. Dabei hätten die Spieler blindlings viel zu viel geglaubt. "Und haben allesamt Lehrgeld gezahlt."
Calmund als "Chefeinkäufer"
Stammann hatte weder einen Berater noch Erfahrung, als ihn Calmund nach Leverkusen lockte. "Ich habe alles, was er mir anbot, so hingenommen." Inklusive freiem Einkauf in einem Möbelhaus.
"Das war wie eine andere Welt", sagt der gebürtige Schweriner, der mit Leverkusen 1993 Pokalsieger wurde, und seit 2000 Jugendtrainer in Wolfsburg ist. Während Sammer in Stuttgart eine Weltkarriere starten sollte, überzeugte Calmund auch Kirsten von Leverkusen - für den Chefeinkäufer noch immer "unser bester Transfer". Kirsten kam für 3,5 Millionen D-Mark und erzielte bis 2003 in 350 Spielen 181 Tore. Letztendlich hätten alle immer Angst gehabt, so Radtke, "dass nicht noch einer geht". Nicht nur Stammann verließ Schwerin, sondern auch Torwart Andreas Reinke, der mit Werder Bremen 2004 das Double holte.
Fußball im Osten blutet aus
Der Fußball im Osten blutete aus. Auf dem Weg vom Sozialismus zur Marktwirtschaft traten zudem die Schattenseiten der Branche brutal zutage. Randale auf den Rängen, Naziparolen und wilde Prügeleien selbst mit der Polizei. "Eine komplett rechtsfreie Zeit. Jeder hat gemacht, was er wollte", erzählt Baumgart. Überdies wurden Stasiverstrickungen in den Clubs öffentlich. Der Dresdner Torsten Gütschow etwa wurde als IM "Schröter" enttarnt. Er sei erpresst worden, sagte der 57-Jährige, der unter anderem in Istanbul und bei Hannover 96 gespielt hat.
Minge: Musste nicht alles machen
Drei Jahrzehnte nach dem letzten Pokalfinale in der DDR, im 30. Jahr der deutschen Einheit, mag erkennbar sein, was richtig und was falsch gelaufen ist. Doch die Ungewissheit, die damals herrschte, lässt nicht jeder, der dabei war, als Argument gelten. "Da sind Sachen gelaufen, die musste man nicht machen", sagt Dynamo-Legende Minge, heute Sportdirektor beim Zweitligisten aus Dresden: "Das war erschütternd."