Vierfachmord von Scheeßel - Missbrauchte der Schütze den Sport?

Stand: 22.08.2024 10:50 Uhr

Florian G. soll die liebsten Menschen seiner Ex-Frau getötet haben. Möglich waren die Taten nur, weil er als Sportschütze ein kriegswaffenähnliches Gewehr besitzen durfte. Kein neues Problem, doch von den Sportverbänden will niemand etwas davon wissen, wie eine Recherche der NDR Sportredaktion zeigt.

Als das Gericht den Saal betritt, steht Florian G. stramm. Auch die nächsten Minuten ähneln eher einem Appell als dem Auftakt eines Mordprozesses, der an Brutalität kaum zu überbieten ist. Der Vorsitzende Richter des Landgerichts Verden fragt die Personalien des Angeklagten ab. Der 33-jährige Niedersachse Florian G. antwortet jeweils mit einem militärisch anmutenden "richtig!".

Seit 15 Jahren bei der Bundeswehr

Florian G. ist durch und durch Soldat. Seit 15 Jahren ist er bei der Bundeswehr, fast sein halbes Leben. Waffen sind zudem sein Hobby. Als er sich Anfang des Jahres in seiner vielleicht größten Lebenskrise befindet, weiß er sich anscheinend nicht anders zu helfen, als die Gewalt anzuwenden, die er als Fallschirmjäger bei den Streitkräften erlernt hat. Die Ehe mit seiner Frau ist gerade gescheitert, da fasst er den Plan, die Menschen zu töten, die seiner Ansicht nach Schuld tragen an seinem Unglück. So schreibt es die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage: Er tötet aus Hass.

Ein Angeklagter sitzt in einem Gerichtssaal. © dpa Foto: Focke Strangmann
AUDIO: Vierfachmord im Landkreis Rotenburg: Sportschütze vor Gericht (3 Min)

In den frühen Morgenstunden des 1. März 2024 soll er in Westervesede Niels O., den neuen Partner seiner Frau und dessen Mutter Bärbel O. heimtückisch ermordet haben, kurz darauf soll er im Nachbarort Brockel Stephanie K., die beste Freundin seiner Frau und deren drei Jahre alte Tochter Ronja getötet haben. Laut Staatsanwaltschaft waren die Taten regelrechte Hinrichtungen und Jagden, verübt mit seinen privaten Sportwaffen. Ein halbautomatisches Sturmgewehr Heckler & Koch MR308, Nachbau einer Kriegswaffe, dem Gewehr, das er auch bei der Bundeswehr nutzt und einer Pistole. Seine Frau Juliane verschont er. Vielleicht, weil sie wieder schwanger war. Experten nennen Taten wie diese einen Stellvertreter-Femizid.

Die Fassungslosigkeit angesichts der geschilderten Tat-Details ist groß im Saal der Stadthalle Verden. Steffen Hörning ist einer der Opferanwälte. Gemeinsam mit Helen Wienands vertritt er neun Nebenkläger in diesem Prozess. Nicht nur er fragt sich: "Wie kann es sein, dass eine Privatperson über ein solches Waffenarsenal verfügt, zumal es ja Schwierigkeiten gab, es gab die Bedrohung, die Gefährderansprache." 

Gefährderansprache gilt als Auslöser der Morde

Im Fall Florian G. gab es vier Tage vor dem Vierfachmord eine Strafanzeige durch Juliane G. und Nils O., die sich von Florian G. bedroht fühlten. Noch am selben Tag besuchten Polizeibeamte Florian G., führten eine Gefährderansprache durch. Doch da er sich kooperativ verhielt, sahen die Polizisten keinen Grund zum Handeln. Auch die Waffenbehörde wurde nicht informiert. Diese hätte bei Gefahr im Verzug die Waffen von Florian G. beschlagnahmen können. Heute stellen die Ermittler fest, dass diese Gefährderansprache der Auslöser für die Durchführung der Tat war.

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Kein Einzelfall

Der Vierfachmord im Landkreis Rotenburg ist das mutmaßliche Werk eines Sportschützen und kein Einzelfall: ein Jahr zuvor in Hamburg. Ein Amokläufer hatte sich im "Hanseatic Gun Club" auf seine Taten vorbereitet und dann sieben Menschen ermordet. In einem Königreichsaal der Zeugen Jehovas. Auch hier das Motiv: Hass. Auch hier gab es vor der Tat Hinweise, denen nur unzureichend nachgegangen wurde.

Die Initiative "Keine Sportwaffen als Mordwaffen" zählt in ihrer Statistik mehr als 300 Todesopfer durch Schusswaffen von Sportschützen seit 1990. Florian G. ist nun ein Teil dieser schrecklichen Bilanz. Er ist ein ausgesprochener Waffennarr. Auf seinem Facebook-Account folgt er ausschließlich Waffenherstellern und Sicherheitsfirmen, er interessiert sich offenbar für nichts anderes.

"Legal und unbürokratisch mit echten Waffen schießen"

Ortswechsel: Rhüden, ein Stadtteil von Seesen am Rande des Harzes, knapp 3.000 Einwohner. Hier befindet sich ein ungewöhnlicher Schießstand, auf dem auch der "Retro Arsenal Gun Club" zu Hause ist. Die Homepage wirbt: "Bei uns können Sie mit echten Waffen schießen, völlig legal und unbürokratisch." Hier können Junggesellenabschiede oder Geburtstage gefeiert werden, Schießpakete mit den Namen "Apokalypse" oder "Lord of War" gebucht werden.

Hier war Florian G. als Sportler die vergangenen fünf Jahre aktiv. Der Schießstand wird vom SV Reburg von 1997 betrieben, einem Sportschützenverein. Der Gun Club sowie acht weitere Vereine sollen dort schießen. Es ist ein abgeschottetes Areal, von außen nicht einzusehen. Eine anonyme Schießstätte mit großem Einzugsgebiet im gesamten Norden Deutschlands.

Doch vor Ort will niemand etwas mit diesem Schießstand zu tun haben und schon gar nicht mit den Leuten, die dort verkehren. Sagen will das öffentlich niemand. Auch Heinz Gruber, den Vorsitzenden des SV Reburg, sieht man im Ort selten, seinen Sportschützenverein hat er nach sich selbst benannt, indem er einfach seinen Namen rückwärts buchstabiert wählte.

Er wird als kauziger Österreicher beschrieben, der als Patentverwerter tätig war. In den 1990er-Jahren soll er nach Rhüden gekommen sein. Der Schießstand ist sein Werk. Laut Informanten weltweit einmalig, weil die 25 Meterbahn über einen einzigartigen Kugelfang verfügt, den Gruber erfunden haben soll. Die Anlage erlaubt es, auch auf engstem Raum mit schweren Waffen zu schießen. "Mit Sport hat das wenig zu tun", hören wir.

Sportschützen beantworten keine Fragen

Hier ist Florian G. eines von 51 Mitgliedern. Wir haben mehrere Mitglieder befragt - aber angeblich kennt ihn niemand. Der Verein hat sein Waffenbedürfnis attestiert. Am 9. Januar 2020 hat G. bei der zuständigen Waffenbehörde in Rotenburg seine Waffenbesitzkarte als Sportschütze beantragt: Eingetragen sind eine halbautomatische Flinte Kaliber 12/76 Benelli M 4 Super 90 TS, eine halbautomatische Pistole Kaliber 9 Millimeter Luger Sig Sauer P 226 MK 25 und am 6.11.2020 dazu eine halbautomatische Büchse Kaliber 308 Heckler & Koch MR 308 - beides Tatwaffen.

Fragen, wer im Club die Notwendigkeit einer Waffenbesitzkarte für Florian G. ausgestellt hat, bleiben unbeantwortet, auch die Fragen, wer ihn kannte oder wer mit ihm trainiert hat, ob es Auffälligkeiten gab, ob er an Wettkämpfen teilgenommen hat, werden vom Club bis heute nicht beantwortet. Ebenso die Fragen nach einer Aufarbeitung und etwaigen Konsequenzen des Vierfachmordes.

"Was daran sportlich ist, bleibt das Geheimnis"

Roman Grafe von der Initiative "Keine Sportwaffen als Mordwaffen": "Der Täter mordete mit einem halbautomatischen Sturmgewehr, also dem Nachbau einer Kriegswaffe, die von der Firma Heckler & Koch ausdrücklich für den zivilen Bereich hergestellt und angeboten wird und mit coolen Sprüchen beworben wird. Die Projektile einer solchen Waffe erreichen Geschwindigkeiten von rund 3.000 km/h. Was daran sportlich ist, bleibt das Geheimnis. Das sind Waffen, wie sie die Amerikaner in Afghanistan oder Irak benutzt haben."

Auch im Gun Club Retro Arsenal möchte niemand mit uns sprechen, angeblich kennt man Florian G. nicht und möchte auch nichts mit der Öffentlichkeit zu tun haben. 

Weder der zuständige Sportschützen-Landesverband Niedersachsen noch der Bund Deutscher Sportschützen beantworten Fragen zum Vierfachmord ihres Mitgliedes Florian G. So bleibt unklar, ob die Sportverbände den Fall aufarbeiten, ob G. noch im Verband organisiert ist und wie die Funktionäre zu der politischen Diskussion um das Waffenrecht stehen.

Faeser bemüht sich um Verschärfung des Waffenrechts

Denn Bundesinnenministerin Nancy Faeser bemüht sich seit Januar 2023 um eine Verschärfung des geltenden Waffenrechts. Waffenbehörden sollen enger mit Gesundheitsbehörden und der Polizei kooperieren, Erstantragstellende für Waffenberechtigungen ein psychologisches Zeugnis vorlegen. Zudem soll das Gesetz kriegswaffenähnliche halbautomatische Waffen wie im Fall G. verbieten und Schießstände verpflichten, ihre Schützen strenger zu kontrollieren. Doch seit Montaten geht es nicht voran, auch, weil die FDP als Koalitionspartner das geltende Recht für ausreichend hält.

Ähnlich sieht es der Bund Deutscher Sportschützen in früheren Verlautbarungen: Das Waffenrecht in Deutschland sei streng genug, es müsste nur konsequenter angewendet werden. Es gebe aber immer ein Restrisiko.

Roman Grafe von der Initiative "Keine Sportwaffen als Mordwaffen" sieht das anders: "Wer die Opfer tödlicher Sportwaffen als unvermeidlich abtut, als unabwendbares Schicksal, der stellt sich dumm ohne jede Scham. Jedes Kind weiß, ohne Waffe kann ich keinen erschießen. Letztlich ist solchen Leuten das Sport- und Spaßschießen wichtiger als das Leben der anderen."

"Ich dachte, hoffentlich kein Sportschütze"

Doch dass Schießen eine etablierte Sportdisziplin ist, zeigt nicht nur, dass sie im olympischen Kanon und eben auch ein echter Wettkampfsport ist. Jürgen Dunecke ist Kreisschützenpräsident von Rotenburg, also dem Landkreis, in dem G. gemordet haben soll. Dass Sportschützen mit kriegsähnlichen Waffen schießen, hört er zum ersten Mal.

Er lädt ein zu einem abendlichen Training beim Schützenverein Schwitschen bei Visselhövede. Die meisten schießen hier Luftgewehr. Ein paar Schützen auch Kleinkaliber. "Etwas Größeres brauchen wir eigentlich nicht." Ein Bundesliga-Schütze ist auch dabei, ebenso ein ehemaliger Soldat, der gern sein Sportgerät präsentiert und erklärt, wie ihm das Zielen und Abdrücken seines Luftgewehres viel mehr Freude bereitet als das Abfeuern eines Großkaliber-Gewehrs. Die Waffen, die Technik, alles scheint das komplette Gegenteil von der Sportschützenheimat des Florian G. am Harzrand zu sein.

Dunecke erinnert sich noch genau daran, als er die Nachricht vom Vierfachmord hörte: "Ich dachte, hoffentlich kein Sportschütze", sagt er. Er beklagt, dass Sportschützen und Schützen häufig in einen Topf geworfen werden. Dass der Reflex nach solchen Taten immer derselbe sei. "Aber hier kann man doch sehen, dass es anders geht."

Florian G. äußert sich nicht zu den Vorwürfen

35 Verhandlungstage hat das Landgericht Verden angesetzt. Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft und anschließende Sicherungsverwahrung. Eine Enttäuschung brachte der Prozessauftakt schon: Anders als vom Gericht angenommen, äußert sich Florian G. nicht zu den Vorwürfen.

"Das ist feige, die Hinterbliebenen haben darauf gehofft, dass er aussagt", sagt Anwalt Steffen Hörning. Zwei Betroffene waren zum ersten Tag der Verhandlung erschienen. "Die anderen Hinterbliebenen sind schlicht noch nicht in der Lage sich mit dem Täter und Prozess auseinanderzusetzen", so Hörning.

Dieses Thema im Programm:

Sport aktuell | 22.08.2024 | 11:17 Uhr

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