Abitur. Oder: Auf der Zielgeraden?!
Wer an die Uni will, hat einen langen Weg vor sich. Wer studieren möchte, braucht Abitur. Und weil Bildung Ländersache ist, kocht jedes Bundesland sein eigenes Abitur-Süppchen. Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern setzen auf die Hochschulreife nach zwölf Schuljahren, in allen anderen Bundesländern gibt es unterschiedliche Regelungen.
Umfrage: "Vom Lern- und Arbeitspensum überfordert"
Zwölf Jahre bis zum Abitur - das überfordert viele Schüler im Nordosten. Am Goethe-Gymnasium in Ludwigslust gab mehr als die Hälfte der befragten Elftklässler an, nach der Schule lange mit Bus, Bahn oder speziellem Ruftaxi nach Hause zu fahren. Alle würden nach der Schule länger als vier Stunden am Tag an Hausaufgaben, der Vorbereitung von Vorträgen und Klausuren sitzen. Pro Woche stehen der Umfrage von NDR Newcomernews Online zufolge zwei bis drei Arbeiten an. Auch das Wochenende werde nicht allein zur Erholung genutzt. Trotzdem nehmen sich viele der Jugendlichen nach eigener Aussage noch Zeit, um einem Hobby nachzugehen.
Mutter und Lehrerin: Die doppelte Ladung Abitur
Julia Fynnau arbeitet als Lehrerin am Goethe-Gymnasium Ludwigslust. Sie unterrichtet die Fächer Musik und Biologie. "Mein Ältester sitzt gerade in der Abiturprüfung, das ist schon sehr stressig insgesamt. Mein Sohn ist im Moment hohen Anforderungen ausgesetzt, das macht ihn leicht reizbar, unausgeglichen und das beeinflusst die gesamte Familienatmosphäre. Zumal man als Mutter ja auch nicht helfen kann, außer in der Vorbereitung."
"Zwölf Jahre Schule sind gut, aber mit weniger Stoff"
Ich finde, das Abitur nach zwölf Jahren Schule abzulegen ist gut, aber unter anderen Gesichtspunkten. Der Lehrplan müsste auf jeden Fall abgespeckt werden - das muss weniger sein. "Damit mehr Raum bleibt, sich individuell entfalten zu können. Zum Beispiel für Musik, um sich auszuprobieren, kreativ zu werden. Oder dafür, dass man bestimmte Themen in der Biologie auch mal vertiefen kann als Lehrer und nicht sagen muss: 'Wir müssen weitermachen!'"
"Mit Freizeit sieht es mau aus"
Lilly Blaudszun ist 16 Jahre alt und geht in eine elfte Klasse des Goethe-Gymnasiums, ihre Leistungskurse: Geschichte und Englisch. Lilly findet, dass der Druck auf sie und ihre Mitschüler mit den Schuljahren auf jeden Fall gewachsen ist. Freie Wochenenden und Hobbys wären da eher die Ausnahme. Aber, wer sich und seinen Lernstoff gut organisieren könne, der würde auch auf dem Weg zum Abitur zurechtkommen.
Schülerin findet: "Schulsystem durchgefallen!"
Lilly sagt: "Man sieht ja, dass das aktuelle Schulsystem gescheitert ist. Sowohl die Lehrer als auch die Schüler sind gestresst. Bei uns im Matheunterricht kann man nicht mal mehr üben. Da wird das Thema vorgestellt und man übt das dann halt zu Hause. Ich glaube schon, dass es an der Zeit ist, dass wir wieder auf 13 Jahre umstellen!" Lilly schlägt vor, dass Jugendliche sich künftig zwischen einer Schulzeit von zwölf und 13 Jahren entscheiden können. Damit jede Schülerin, jeder Schüler die Möglichkeit hat, das Abitur zu machen, das zu ihr oder ihm passt.
"Eine Klasse voller Sorgenkinder!"
Passende Lösungen sucht auch Ramona Stein. Sie ist als Schulsozialarbeiterin täglich mit dem Abitur-Stress von Schülerinnen und Schülern am Goethe-Gymnasium in Ludwigslust konfrontiert. Einige Eltern, sagt sie, würden ihren Kindern inzwischen Tabletten mitgeben, damit diese den Tag ohne Kopfschmerzen überstehen. Die Jugendlichen würden auch Drogen, wie Cannabis und Alkohol nehmen, um den Stress zu bewältigen. Manche hätten dazu auch noch Nebenjobs, um Geld zu verdienen - eine zusätzliche Belastung. In einem Halbjahr, schätzt die Schulsozialarbeiterin, kommen fast 30 Kinder und Jugendliche mit Problemen und Stress zu ihr.
Kaum Zeit für Talente, Interessen, Persönlichkeit
Karen Rau ist Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche. Sie sieht die Debatte um das eine Jahr aus verschiedenen Perspektiven. Junge Leute, die erst nach 13 Jahren Schule das Abitur ablegen, sagt sie, könnten Gefahr laufen, zu spät erwachsen zu werden und in der gewohnten Umgebung zu verharren. Auf der anderen Seite gebe es das Problem, dass Abiturienten nach zwölf Jahren zu viel Stoff und zu wenig Zeit hätten, ihre Talente zu entdecken, neue Interessen kennenzulernen und den eigenen Charakter zu entfalten. Psychischer Stress gehe nicht direkt von dem Berg an Hausaufgaben aus, er sei auch oft selbst gemacht. Deswegen müssten Heranwachsende lernen, für sich selbst Entscheidungen zu treffen und Prioritäten zu setzen.
Eine Lösung: individuell denken, nicht verallgemeinern
Ob es jemandem leicht oder schwer fällt, das Abitur zu schaffen, ist auch eine Frage der eigenen Fähigkeiten und Belastbarkeit. Erwachsene, die für die NDR Newcomernews Reporter auf ihre eigenen Erfahrungen zurückblicken, sagen, man könne da nicht verallgemeinern. Viele sind sich aber darüber einig, dass es helfen kann, den eigenen Weg zu machen, wenn ein Mensch Zeit hat, umzukehren, die Richtung zu ändern oder auch mal falsch abzubiegen.
Dieser Artikel ist durch Schülerinnen und Schüler im Rahmen eines Workshops des Medienbildungsprojekts NDR Newcomernews des NDR Landesfunkhauses entstanden.