Podcast "Aufruhr": #4 Zusammenhalt - Gehört "braun" zu "bunt" dazu?
Laut einer Studie der EU-Kommission stieg das Gefühl der Einsamkeit bei Menschen in Europa während der Corona-Pandemie an. Und auch nach Corona scheint dieses Thema immer noch aktuell zu sein. Besonders auf dem Land fehlt es häufig an sozialen Treffpunkten. Vielerorts füllen während und nach der Pandemie Demonstrationen diese Lücke und schaffen Gemeinschaft im selbst ernannten "Widerstand".
Für den Podcast "Aufruhr - Über Wut, Demos und Zusammenhalt" haben sich die Journalistinnen Aniko Schusterius, Margareta Kosmol und Leonie Hartge auf eine Reise durch Vorpommern begeben. "Wir waren auf ziemlich vielen Demonstrationen in Vorpommern und haben schnell gemerkt: Die Menschen sind hier nicht nur wegen der Inhalte. Wir hatten das Gefühl, hier kenne sich alle", sagt Leonie Hartge. Viele Besucher der Demonstrationen, mit denen das Autorinnenteam ins Gespräch kommt, berichten Ähnliches:
"Ich bin jede Woche hier und wir sind 'ne richtige Familie geworden. Uns haben die letzten drei Jahre richtig zusammengeschweißt. (…) Für mich war die Pandemie schlimm." Demoteilnehmer und Altenpfleger 2023 in Demmin
Demonstrationen als sozialer Treffpunkt
Vor allem die Schließungen und Kontaktbeschränkungen haben während der Pandemie bei vielen Menschen zu einem Gefühl von Einsamkeit geführt, bestätigte kürzlich auch eine Studie der EU-Kommission. Waren vor der Pandemie vor allem ältere Menschen von Einsamkeit betroffen, trifft es zu Corona-Zeiten vermehrt junge Erwachsene und Singles. Eine zweite Beobachtung, die die drei jungen Journalistinnen auf den Demonstrationen machen, ist eine spirituelle und teilweise religiöse Stimmung. "Reden von der Bühne, gemeinsames Singen, Freunde und Bekannte treffen, sich selbst als die verstehen, die 'die Wahrheit' erkannt haben und nun versuchen andere zu überzeugen - von ihren teilweise demokratiefeindlichen und verschwörungsideologischen Ansichten." Früher war es die Kneipe, die Kirche oder der Fußballverein - heute sind die ehemaligen Corona-Demos zum sozialen Treffpunkt geworden. Denn auch Begegnungsorte wie die Kirche mussten Gottesdienste absagen, um eine Verbreitung der Corona-Pandemie zu verhindern.
"Ich war auch mal in der Kirche, aber da kann man auch nicht mehr hingehen (...) Da wurden die Ungeimpften gar nicht mehr reingelassen. (...) Hier kann jeder kommen. In der Kirche war es nicht so.“ Demoteilnehmer und ehemaliger Kirchgänger 2023 in Demmin
Auswirkungen von Einsamkeit auf Demokratie
Demonstrationen als soziale Treffpunkte gegen die Einsamkeit? "Zumindest beschreiben das viele Teilnehmende so", sagt auch Demokratieforscher Dierk Borstel und findet dafür auch eine Erklärung. In vielen Regionen haben soziale Treffpunkte "in der Fläche" seit der Wiedervereinigung stetig abgenommen. Jugendclubs, Kulturorte, Vereine, LPGs, auch Schulen - viele dieser Orte, an denen sich Menschen begegnen, fehlen in vielen Regionen und kleinen Orten zunehmend. Zurück bleibe nach Ansicht Borstels zwar der Wunsch nach einer solidarischen und gerechten Gesellschaft, allein die Orte zur Begegnung und das Gefühl, gemeinsam etwas bewirken zu können, schwinden. Die These: Je einsamer die Menschen in ländlichen Räumen und kleineren Orten sind, desto einfacher ist es, dass rechte oder verschwörungsideologische Gruppen einen sozialen Raum schaffen, der Menschen wieder verbindet. Und was auch verbindet, stellt das Autorinnentam fest, ist immer häufiger auch ein gemeinsamer Gegner.
Gehört "braun" zu "bunt" dazu?
Denn auch "Gegner von außen" können den Zusammenhalt fördern. Auf Rügen mobilisiert das von der Bundesegierung geplante LNG-Terminal über Monate hinweg immer wieder Tausende, die gemeinsam demonstrieren. Dabei laufen Friday for Future Aktivisten und Menschen aus der Region, die sich beispielsweise um den Tourismus sorgen auch gemeinsam mit Teilnehmern "des rechten Spektrums", wie das Autoreinnenteam beobachtet. Was die Journalistinnen wundert: Das Nebeneinander grundlegend unterschiedlicher Meinungen, bis hin zu demokratiefeindlichen Positionen scheint viele Demobesucher nicht zu stören, solange das gemeinsame Ziel eint. "Manche der Sachen, die man hier so hört, finde ich schon ein bisschen fragwürdig, aber letztendlich muss man sagen, dass wir trotzdem für das gemeinsame Ziel hier sind", sagt ein Teilnehmer, der sich der Fridays for Future Bewegung zuordnet. Ein AfD-Politiker meint, es ginge "ja eigentlich nicht darum, ob man links, rechts, Mitte, blau, gelb, grün ist - wir sind Rüganer" und setzt nach: "Also ich würde mich hier mit jedem hinstellen, wenn's für die richtige Sache ist." Und auch die Betreiberin eines Biohofes aus der Region stellt fest: "Wir können uns sicherlich nicht mit der AfD identifizieren, aber womit ich mich identifizieren kann, ist mit dem Ziel kein LNG vor Rügen." Man dürfe sich nicht spalten lassen, "sonst verliert man die Menschen hier." Gehört "braun" also zu "bunt" dazu?
Breite Akzeptanz demokratiefeindlicher Meinungen
Vielerorts scheinbar schon, meint man aus den Antworten der Demoteilnehmer zu entnehmen. Dierk Borstel erklärt die Akzeptanz demokratiefeindlicher Meinungen so: "Man hat einen gemeinsamen Bezug zur Insel und hat gemeinsame Ängste (...) Aber das ist sozusagen eine Notgemeinschaft, die sich gegen etwas richtet, was als Angriff begriffen wird". Es sei allerdings "keine positive Gemeinschaft, die zum Beispiel auf eine gemeinsame Weiterentwicklung zählt." Einig sei man sich zunächst nur darüber, "wogegen man ist". Der Unterschied liege jedoch darin, ob man auf die Straße geht, "um ein demokratisches Recht in Anspruch zu nehmen" oder ob es darum geht, "demokratische Rechte zu bekämpfen". An dieser Stelle vermisse Borstel "mehr Distanz". Die Frage sei eben am Ende, wer "in dieser Bewegung in Zukunft meinungsbestimmend sein" wird. Eine Gefährdungslage sehe er vor allem bei den Gruppierungen, denen es nicht um "einen demokratischen Weg hin zu einer demokratischen Zukunft" gehe, sondern bei jenen, "die versuchen, diese Proteste für ganz andere Zwecke zu nutzen, denen es dann auch nicht mehr um LNG geht oder um Tourismus, sondern um eine Verabschiedung aus Demokratie und Rechtsstaatlichkeit."
Der Podcast hat es auf die Votingliste zum Deutschen Podcastpreis 2024 für den Publikumspreis in der Kategorie "Information" geschafft. Noch bis zum 20. Mai könnt ihr hier für "Aufruhr" stimmen.