Was tun, wenn mein Kind abhängig von Social Media ist?
Kinder und Jugendliche brauchen klare Regeln zur Mediennutzung, sagt Suchtexperte Manfred Patzer-Bönig im NDR Interview. Es bringe aber nichts, soziale Medien zu verteufeln.
Immer mehr junge Menschen haben Probleme mit ihrem Medienkonsum. Das zeigt eine aktuelle Studie der Krankenkasse DAK. Rund 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche sind demnach akut gefährdet, mediensüchtig zu werden oder sind bereits abhängig. Der Medienkonsum ist demnach in der Corona-Pandemie deutlich angestiegen. "Das Problem ist bei uns omnipräsent", sagt Manfred Patzer-Bönig, Experte für Glücksspielsucht und Medienabhängigkeit bei der Landesstelle für Suchtfragen.
Herr Patzer-Bönig, viele Jugendliche hängen ständig am Handy oder spielen Computerspiele? Ab wann wird das problematisch?
Patzer-Bönig: Die Zeit, die jemand vorm Bildschirm verbringt, ist nur ein Anhaltspunkt von vielen, die wir uns anschauen. Wir klopfen alle Lebensbereiche ab: Geht der Jugendliche regelmäßig zur Schule? Hat er neben dem Computerspielen andere Hobbys, macht zum Beispiel Sport oder Musik? Ist er in der Familie eingebunden? Oder vernachlässigt er seine Interessen, weil er die Kontrolle über seinen Konsum verloren hat? Es gibt ganz klare Diagnosekriterien und letztlich kann nur ein Arzt oder Therapeut feststellen, ob eine Sucht vorliegt.
Sie haben mit vielen Jugendlichen zu tun, die ihren Medienkonsum nicht mehr unter Kontrolle haben. Wozu führt diese Sucht?
Patzer-Bönig: Sie löst bei den Betroffenen einen erheblichen Leidensdruck aus. Oft werden die Leistungen in der Schule oder Ausbildung schlechter. Manchmal werden dadurch auch soziale Ängste verstärkt: Wenn sich zum Beispiel ein ängstliches, unsicheres Kind in die digitale Welt flüchtet, weil es soziale Probleme mit Gleichaltrigen hat. Dann will es am Ende vielleicht gar nicht mehr aus dem Haus gehen.
Die Studie zeigt auch, dass viele Jugendliche problematisch viel Zeit mit Social Media verbringen …
Patzer-Bönig: Die Algorithmen dort sorgen für eine immense Sogwirkung. Oft entsteht für die Jugendlichen ein enormer Handlungsdruck, die App zu öffnen. Das ist von den Entwicklern genauso gewollt. Bei Instagram zum Beispiel stehen Stories nur 24 Stunden online und werden danach gelöscht. Ich muss die App also möglichst oft öffnen, damit mir keine Inhalte entgehen. Und ich muss ständig neue Fotos posten, um oben im Feed meiner Freunde angezeigt zu werden. Das führt dazu, dass Kinder und Jugendliche oft gar nicht richtig einschätzen können, wie viel Zeit sie bei Social Media verbringen.
Was kann ich als Elternteil tun, wenn mein Kind seinen Medienkonsum nicht mehr im Griff hat?
Patzer-Bönig: Erstmal ist ganz wichtig, dass es in einem Haushalt klare Regeln zur Mediennutzung gibt. Über die Hälfte aller Haushalte in Deutschland hat keine solchen Regeln. Das kann doch nicht sein! Viele Eltern wollen lieber die Kumpels ihrer Kinder sein und nicht die Erziehungsberechtigten, die Regeln aufstellen. Das ist falsch.
Und welche Regeln schlagen Sie vor?
Patzer-Bönig: Das hängt vom individuellen Fall ab. Es kann sinnvoll sein, Nutzungszeiten zu begrenzen - zum Beispiel, dass das Handy eine Stunde vorm Schlafengehen ausgestellt sein muss. Oder dass die Konsole im Wohnzimmer steht und nicht im Kinderzimmer. Ich bin ein Freund der 3-6-9-12-Regel des französischen Psychoanalytikers Serge Tisseron.
Was besagt die?
Patzer-Bönig: Keine Bildschirmmedien für unter Dreijährige. Keine Konsole vor dem sechsten Lebensjahr, kein Smartphone vor dem neunten. Und kein unbegleitetes Internet für unter Zwölfjährige.
Man braucht also ein eisernes Regelwerk zur Mediennutzung?
Patzer-Bönig: Naja, es ist sehr wichtig, dass Regeln auf Augenhöhe aufgestellt werden und nicht von oben herab. Am besten sollten Eltern mit Jugendlichen zusammen diskutieren, welche Regeln sinnvoll sein könnten. Dafür ist aber entscheidend, dass die Eltern selbst medienkompetent sind. Diese Kompetenz fehlt oft. Es bringt zum Beispiel nichts, soziale Medien per se zu verteufeln - die sind nun mal Teil der Lebensrealität von Jugendlichen. Aber man kann sich an den Altersgrenzen orientieren, die die Plattformen festgelegt haben: TikTok, Snapchat und Instagram sind erst ab 13 Jahren empfohlen. Das finde ich sinnvoll.
Und wenn mein Kind die Regeln missachtet? Soll ich dann den Stecker ziehen und das Internet ausmachen?
Patzer-Bönig: Das wäre aus meiner Sicht die Ultima Ratio. Wenn klare Anzeichen für einen problematischen Medienkonsum vorliegen, sollten Sie sich professionelle Hilfe holen - zum Beispiel in einer Erziehungsberatungsstelle. Und Sie sollten sich grundsätzlich fragen: Wieso verbringt mein Kind so viel Zeit vor dem Computer oder am Handy? Macht es das vielleicht, um bestimmte Gefühle zu kompensieren? Etwa weil es in der Schule gemobbt wird oder viel Druck in der Familie hat? Oft steckt hinter einem solchen Verhalten ein grundlegendes Problem.
Hilfe und Beratungen für Betroffene und Angehörige bei problematischem Mediennutzungsverhalten bieten zum Beispiel die folgenden Stellen an:
- Blaues Kreuz in der Evangelischen Kirche
- Fachstelle Mediennutzung und Medienabhängigkeit Schleswig
- Fachstelle Mediennutzung und Medienabhängigkeit Kiel
Das Interview führte NDR Schleswig-Holstein Reporter Johannes Tran.