Touré zu Brokstedt: Herausfordernde Situation rechtfertigt keine solche Tat
Wo gibt es Nachbesserungsbedarf bei der Entlassung aus der Haft? Wie können Ausweisungen durchgesetzt werden und wie sollte mit Asylsuchenden umgegangen werden, die sich in einer offensichtlichen Notlage befinden? Integrationsministerin Aminata Touré im Interview.
Wenn jemand aus der U-Haft entlassen wird, was sind die Herausforderungen für die Person und was sind die Unterschiede zur Entlassung aus dem Regelvollzug?
Aminata Touré (Grüne): Das sind genau die Fragen, die wir uns natürlich einen Tag nach dieser schrecklichen Tat auch stellen. Und da sind natürlich gerade auch die Justizministerin, die Innenministerin und ich genau zu dieser Frage im Austausch: Gibt es dort Nachbesserungsbedarf oder nicht? Ich glaube, das ist zumindest meine Position heute, dass man das noch nicht abschließend beantworten kann. Dass es dort höchstwahrscheinlich ein Defizit gibt, ist etwas, was man jetzt erst mal aus dem Bauch heraus durchaus hat. Und genau das werden wir uns angucken, um zu schauen, welche Defizite gibt es, die wir nacharbeiten müssen.
Sind Ihnen die Unterschiede bekannt, die Sie jetzt nennen können zwischen dem Regelvollzug und der Untersuchungshaft?
Touré: Das ist natürlich etwas, was in der Zuständigkeit des Justizministeriums ist. Womit wir uns natürlich als Sozial- und Integrationsministerium im Regelbetrieb nicht auseinandersetzen.
Muss man da nachbessern, dass die Leute mehr aufgegriffen werden, die eine U-Haft oder den Regelvollzug verlassen? Wie nehmen Sie das wahr?
Touré: Ich glaube, dass wir bei diesem ganz konkreten Fall uns anschauen müssen: Ist da wirklich die Herausforderung gewesen? Ist die Herausforderung nach der Entlassung gewesen? Ist die Herausforderung schon viel früher gewesen? Warum ist der Mensch noch im Land gewesen? Ich glaube, dass man jetzt ganz viel intuitiv darauf antworten könnte. Aber mir persönlich und auch meinen Kollegen und Kolleginnen im Kabinett ist das extrem wichtig, dass wir all diese Überlegungen in den nächsten Tagen mitnehmen, um dann zu schauen, welche politischen Rückschlüsse ziehen wir daraus.
Sie haben es gerade angesprochen: Die Frage stellt sich, warum ist der Mann noch im Land gewesen? Sein Asylantrag war abgelehnt, er genoss subsidiären Schutz, war aber straffällig. Ist der Umgang mit straffälligen Asylsuchenden Ihres Erachtens richtig oder muss da möglicherweise nachgesteuert werden?
Touré: Wir haben im Aufenthaltsrecht durchaus Möglichkeiten und Instrumente, um Menschen dann auch auszuweisen. Ich halte das für absolut richtig. Das müssen wir in die Debatte mit reinpacken: Wie sieht es mit der Durchsetzung dieser Ausweisung oder Abschiebung dann aus? Ich glaube, das gehört ganz ehrlich zu dieser Debatte mit dazu und ist einer der Punkte, die wir definitiv besprechen müssen.
Ist eine Ausweisung auch für sogenannte Staatenlose möglich?
Touré: Das ist nämlich genau die Herausforderung bei Staatenlosen, dass es eben nicht so leicht ist. Wo schiebt man dann einen Staatenlosen ab? Und genau darüber werden wir höchstwahrscheinlich auch gerade mit dem Bundesinnenministerium diskutieren müssen. Frau Nancy Faeser (SPD) war gestern da und hat sich diese Fragen auch gestellt.
In Dänemark soll es so sein, dass sie Menschen in Länder abschieben, mit denen sie ein Abkommen haben und dafür sollen Gelder bezahlt werden. Ist das ein Modell, was man sich aus Ihrer Sicht auch in Deutschland vorstellen könnte?
Touré: Das weiß ich nicht, ob man sich dieses Modell so vorstellen könnte. Aber ich glaube, dass das natürlich Debatten sind, die man auch gerade auf europäischer Ebene führen muss. Um dort zu schauen, ist das eine Antwort, die man darauf geben möchte. Aber ich glaube, es ist total wichtig, nach so einer furchtbaren Tat die Dinge zu sortieren, zu schauen, wo haben wir Defizite auch staatlichen Handelns und müssen dann einmal nachschärfen. Und am heutigen Tage, auch an diesem Nachmittag, findet die Gedenk-Trauerfeier statt. Die Menschen sind unter Schock und sind in Trauer. Mir persönlich bricht es das Herz, dass zwei junge Menschen ihr Leben verloren haben. Und dass sich so etwas nicht wiederholt, ist Aufgabe auch politischen Handelns. Und deswegen werden wir uns mit dieser Frage sehr intensiv auseinandersetzen: Wo müssen und können wir noch besser werden?
Sie haben in Ihrer eigenen Vita auch Erfahrungen mit Aufenthaltsrecht und kennen sich da wirklich auch sehr gut aus. Geht man mit Menschen richtig um, wenn einer 2014 einreist und der Schutzstatus 2023 immer noch ungeklärt ist? Ist der Umgang mit solchen Menschen, die sich offensichtlich in einer Notlage befinden, richtig?
Touré: Ich glaube, auch das kann man an diesem Einzelfall noch gar nicht wirklich abschließend sagen, ob jetzt vernünftig mit dem umgegangen wird oder nicht. Ich muss aber auch sagen, dass es mir persönlich an dieser Stelle auch egal ist, weil egal wie herausfordernd die Situation eines Menschen ist: Es rechtfertigt zu keinem Zeitpunkt, zwei unschuldige Menschen zu töten und andere zu verletzen. Sie haben meine persönliche Situation angesprochen: Ich weiß, wie es ist, in Deutschland acht Jahre und noch länger in Kettenduldungen zu leben. Es gibt viele Menschen, die in dieser Situation sind und deswegen nicht straffällig werden. Ich glaube, wir brauchen vernünftige aufenthaltsrechtliche Regelungen und so weiter und so fort. Aber es entschuldigt zu keinem Zeitpunkt eine solche Tat.
Was ist der Ausblick? Wie geht das jetzt in dieser Sache weiter? Gibt es schon konkrete Termine oder Absprachen, die sie treffen werden?
Touré: Absolut. Die Innenministerin, die Justizministerin und ich werden uns Ende nächster Woche beispielsweise treffen. Und auch im Laufe dieser Zeit schauen wir natürlich alle in unseren jeweiligen Verantwortlichkeiten, was ist noch zu tun, was müssen wir uns noch anschauen? Und heute gehen aber die Finanzministerin, die Innenministerin und ich erstmal gemeinsam nach Brokstedt zu dieser Gedenkveranstaltung. Weil das Entscheidende ist, glaube ich, erst einmal auch jetzt bei den Trauernden und bei den Opfern zu sein.
Das Interview führten Anna Grusnick, Sofia Tschernomordik und Stefan Böhnke für NDR Schleswig-Holstein.