Studie: Immer mehr Menschen sind von Armut betroffen
Das Thema Armut ist oft mit großer Scham verbunden. Eine Studie der Diakonie und Fachhochschule Kiel zeigt, dass immer mehr Menschen im Land trotz Arbeit in Vollzeit von Armut betroffen sind.
Die Weihnachtszeit steht vor der Tür. Doch immer mehr Menschen können sich das gesellige Beisammensein auf dem Weihnachtsmarkt nicht mehr leisten. Trotz Vollzeitjob reicht das Geld nicht mehr aus, um sorglos durch die Innenstadt zu schlendern und im Anschluss einen Glühwein zu trinken.
Laut dem Statistikportal des Bundes waren im Jahr 2021 knapp 15,6 Prozent der Menschen in Schleswig-Holstein von Armut betroffen. Die gestiegenen Lebenshaltungskosten dürften die Lage weiter verschärft haben.
Trotz Arbeit reicht das Geld nicht
Schleswig-Holstein ist trauriger Spitzenreiter, was den Anteil an Geringverdienenden im westdeutschen Vergleich betrifft. Die Studie "Armut in Schleswig-Holstein" der Diakonie und Fachhochschule Kiel beweist, dass Armut viele Facetten haben kann. Die Forschenden befragten 20 Betroffene in Interviews und Diskussionsrunden nach ihren Erfahrungen. Der Fokus lag dabei auf den Schicksalen der Menschen, was bisher einzigartig ist.
Die Studie offenbart, dass immer mehr Vollzeitbeschäftigte im Niedriglohnsektor nicht von ihrer Arbeit leben können. In touristisch geprägten Regionen spitzt sich die Situation besonders zu. Es wird immer schwieriger, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Hinzu kommen die steigenden Kosten für Mobilität, Heizung und Lebensmittel.
Alleinerziehende sind von den Problemen besonders betroffen. "37,1 Prozent der Alleinerziehenden im Land sind von Armut betroffen. Es muss für diese Personengruppe eine Betreuungsgarantie geben, die wohnungsnah stattfinden sollte", fordert Diakonievorstand und Landespastor Heiko Naß.
Es wird deutlich, dass Armut nicht das Resultat aus individuellem Versagen ist, und zeigt, welche Anstrengungen die Betroffenen täglich auf sich nehmen, um für sich und ihre Familien zu sorgen. Ein hoher Bildungsstand und ein Elternhaus mit sicheren Einkommen, eine gute körperliche Verfassung und ein soziales Netzwerk schützen nicht davor, in Armut zu fallen.
"Die Studie ermöglicht uns einen Blick in die ganz persönlichen Lebensumstände von Menschen in Armut jenseits der statistischen Erhebungen", erklärt Prof. Dr. Kim Bräuer, eine der Autorinnen der Studie. Viele Interviewte schilderten demnach, dass ein unerwarteter Schicksalsschlag ihre Lebenssituation verschlechtert habe. "Die Auslöser für die Armut konnten in vielen Fällen benannt werden", so Bräuer.
Scham stellt für viele Betroffene eine große Hürde dar
Für Betroffene ist die Situation oftmals mit einem großen Schamgefühl behaftet. Es ist eine Zwickmühle: Der tägliche Kampf um die eigene Würde verschlimmere nochmals die finanzielle Situation, erläutert Bräuer die Gegebenheiten von vielen Personen im Land.
"Die Betroffenen schämen sich für ihre Situation. Der damit verbundene tägliche Kampf um die eigene Würde führt zu einer weiteren Verschärfung der finanziellen Nöte." Prof. Dr. Kim Bräuer, eine der Autorinnen der Studie
Trotz hohen Eigenengagements stünden behördliche und gesellschaftliche Hürden im Weg, die den Ausweg aus der prekären Lebenssituation versperren könnten.
Die Teilnehmenden beklagten, dass Beratungsangebote nicht auf die jeweilige Situation zugeschnitten seien. Dies führe zu Frust bei den Antragstellerinnen und Antragstellern. Lange Wartezeiten auf Termine und Therapieangebote sorgten für eine Zuspitzung der Situation. Dabei würde die mangelnde Unterstützung durch die Behörden als größtes Problem genannt, führt Bräuer weiter aus.
Hilfe anzunehmen fällt den Betroffenen schwer
Einige Interviewte berichten davon, sich nicht mehr genügend Lebensmittel leisten zu können. Um der Familie eine warme Mahlzeit am Tag auf den Tisch zu stellen, muss an anderen Dingen gespart werden. Selbst für Obst und Gemüse und Süßigkeiten für die Kinder fehlt oft das nötige Kleingeld. Der Gang zur Tafel wird für manche notwendig, auch wenn er unangenehm ist.
"Der Gang zur Tafel fällt vielen schwer. Die Angst ist groß, dass man in der Warteschlange vom Nachbarn gesehen werden könnte." Diakonievorstand und Landespastor Heiko Naß
Um trotzdem über die Runde zu kommen, schildert eine Studienteilnehmerin, wie sie sich das Einkochen beigebracht hat. So kann sie Lebensmittel, die sie aus Abfallcontainern gesammelt oder auf öffentlichen Flächen geerntet hat, länger haltbar machen. "Wir müssen schnellere und unkomplizierte Hilfsangebote schaffen, um den Menschen einen Ausweg aufzuzeigen", fordert Naß.
Die ungerechte Verteilung von Ressourcen sorgt für Frustration
Die Teilnehmenden der Diskussionsrunden kritisieren die ungerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen und sehen hier einen Auslöser für ihre Armut. Sie betonen deshalb, dass bisherige Sozialleistungen und Fördermöglichkeiten es nicht schaffen würden, den Betroffenen eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten. "Eine Kürzung der Mittel ist nicht zielfördernd und würde die Situation für viele Menschen im Land weiter verschlechtern", sagt Sozialstaatssekretär Johannes Albig (Grüne).
In letzter Instanz ist Armut das Produkt der ungleichen Verteilung von Ressourcen und Chancen in unserer Gesellschaft - einer Ungleichheit, die sich gegenwärtig weiter verschärft. Darum lautet das Fazit der Diakonie und der Fachhochschule Kiel: Die Hilfsangebote müssen unkomplizierter und passgenauer werden.