Mit Lesehund "Lotta" Vorlesen lernen
Das Projekt findet großen Anklang: Drei Mal im Jahr können leseschwache Kinder in Stadtteilbüchereien in Kiel einem ausgebildeten Therapiehund vorlesen. Der Nutzen ist wissenschaftlich belegt.
Links und rechts reihen sich Regale voller Bücher aneinander. Es riecht alles noch ganz neu und vereinzelt stöbern Kinder mit ihren Eltern durch das Angebot. Dazwischen läuft eine große, braune Labrador-Hündin. Sie heißt "Lotta Blümchen" und ist eine ausgebildete Therapiehündin. "Oh, she is big" [engl., 'sie ist groß'] murmelt ein Kind, als "Lotta" an ihr vorbei läuft. Es ist der erste Tag eines Vorleseprojektes in der Stadtteilbücherei Kiel-Friedrichsort. Heute sehen sich "Lotta" und die vier Schulkinder, die die Plätze im aktuellen Projekt bekommen haben, zum ersten Mal. Sieben Wochen werden sie sich jeden Dienstag treffen. Die Kinder lesen vor, "Lotta" hört zu.
Projekt fördert Selbstvertrauen
Die Idee hinter dem Projekt ist einfach: Leseschwache Kinder ab der zweiten Klasse lesen einem Therapiehund vor. Er wertet und kommentiert nicht. Das baut Ängste ab und fördert das Selbstvertrauen der Kinder. Deutschlandweit wird dieser Ansatz zur Förderung der Lesekompetenz immer beliebter. In anderen Ländern ist er allerdings schon viel verbreiteter, erzählt Christin Jans von der Stadtbücherei Kiel. Sie hospitierte in einer Bücherei in den Niederlanden, als ihr ein großer Lesehund auf dem Rücken liegend den Weg versperrte - so kam sie zum ersten Mal in Kontakt mit der Idee. 2021 hat sie die Projektreihe für die Stadtbücherei Kiel übernommen. Drei Mal im Jahr kommt ein Lesehund in die verschiedenen Stadtteile und das Projekt findet großen Anklang. Die wenigen Plätze schnell besetzt. Das Feedback ist bislang durchweg positiv, erzählt Jans. "Wir haben von fast allen Kindern gehört, dass das Projekt ein Erfolg war." Und auch Lehrer meldeten langfristige Erfolge zurück. Das Wichtigste dabei ist aber, dass die Kinder Spaß haben, so Jans.
Jedes Kind sucht sich ein Buch nach seinen Interessen aus
Jedes der vier Kinder in den hellen Räumen der Stadtteilbücherei Friedrichsort hält bereits ein Buch in der Hand, das es "Lotta" vorlesen möchte. Ayda hat sich für "Ein Fall für die Kichererbsen" entschieden. Das Cover zeigt drei Mädchen. "Die sehen so aus wie die von den drei Ausrufezeichen", erklärt die Achtjährige ihre Buchwahl. Doch bevor es ans Lesen geht, will Jans mögliche Berührungsängste mit "Lotta" abbauen und Verhaltensregeln im Umgang mit dem Tier erläutern. Sie führt die Kinder zusammen mit Pädagogin Sina Öhlenschläger, zu der "Lotta" gehört, in einen Nebenraum mit großen, in einem Kreis aufgestellten Sitzsäcken. In der Mitte liegt ein brauner Teppich. Das ist "Lottas" Arbeitsplatz.
Mit Kunststücken gegen die Angst
"Der Hund hat mir zugeblinzelt", platzt es aus Ayda heraus. "Ich liebe die Schwabbelohren", sagt der neben ihr sitzende Lennox. Alle lachen und schon ist das Eis gebrochen. "Can she roll?" [engl., 'kann sie sich rollen'], fragt ein etwas älteres Mädchen, das zugibt, ein kleines bisschen Angst vor "Lotta" zu haben. Rollen kann sie auf dem glatten Boden zwar nicht, aber Sina Öhlenschläger lässt "Lotta" ein paar andere Kunststücke vorführen, die die Kinder gerne bestaunen. Dann werden Eltern und Geschwister rausgeschickt und es geht ans Lesen. Dafür bleibt nur jeweils ein Kind mit Öhlenschläger und "Lotta" im Raum. Ayda ist als Erste dran.
Lesefähigkeit während Corona verschlechtert
"Manche Kinder weinen tatsächlich beim letzten Termin", sagt Öhlenschläger, die eigentlich eine Kita leitet und sich ehrenamtlich in dem Projekt engagiert. Sie erzählt von einem Kind, das beim Lesen stark gestottert hat, aber sofort flüssig lesen konnte, als "Lotta" ihren Kopf auf das Bein des Mädchens legte. Studien haben die stressreduzierende Wirkung von Hunden auf Menschen schon länger belegt. In einer Studie der Universität Rostock beispielsweise konnten Kinder, die eine hundegestützte Leseförderung erhielten nach zwölf Wochen deutlich besser vorlesen als Kinder, die über den gleichen Zeitraum einem Kuscheltier vorlasen.
Lesen ist mehr als das Aneinanderreihen von Silben und Wörtern. Es ist eine Übung zum Verstehen und Reflektieren von Texte, um das eigene Wissen zu erweitern. Durch Maskenpflicht im Unterricht und Homeschooling hat sich die Lesefähigkeit vieler Schülerinnen und Schüler während der Corona-Pandemie verschlechtert - auch das zeigen Studien.
Leseschwäche mit Lesehund "Lotta" kaum zu hören
Ayda setzt sich aufrecht auf ihren Sitzsack, schlägt das Buch auf und legt den rechten Zeigefinger unter die erste Zeile. Langsam beginnt sie zu lesen. "Lotta" liegt entspannt auf ihrem Teppich und döst vor sich hin. Ab und zu wendet sie den Kopf und schnuppert an Aydas schwarzen Schuhen mit den Glitzerschnallen. "Lies langsamer, lass dir Zeit", ermuntert Öhlenschläger nur einmal, als Ayda sich mehrfach hintereinander verhaspelt. Danach klappt das Lesen flüssiger. Viel zu schnell kommt die Ansage: "Nur noch zwei Minuten." "Möchtest du noch die Seite zu Ende lesen oder möchtest du eine Karte ziehen und ein Kunststück mit 'Lotta' machen?", fragt Öhlenschläger. "Eine Karte ziehen", antwortet Ayda und schlägt den Fall für die drei Kichererbsen zu. "Erdmännchen", flüstert Öhlenschläger dem Mädchen ins Ohr. "Erdmännchen", wiederholt Ayda laut für 'Lotta', die sofort Männchen macht. Als Belohnung gibt es ein Leckerli. Ayda lacht. Die Frage, ob es ihr Spaß gemacht hat, bejaht sie. Und von ihrer Leseschwäche war beim Lesen für "Lotta" schon heute kaum etwas zu hören.