Hilfe für Jugendliche nach Messerattacke in Brokstedt
Nach der tödlichen Attacke in einem Regionalzug, beschäftigen die Bilder der Tat Augenzeugen noch immer. Sascha Niemann von der Trauma-Ambulanz Westholstein kümmert sich um die Betroffenen.
Es regnet ununterbrochen an diesem Vormittag. Der Bahnhof in Brokstedt ist fast menschenleer. Nur kurz bevor ein Zug einfährt, sammeln sich eine Handvoll Personen auf dem Bahnsteig, um in den Zug einzusteigen. Auf dem Gleis Richtung Hamburg erinnern die inzwischen vertrockneten Blumen und Kerzen im Wartehäuschen an die schreckliche Tat vor gut einem Monat. Für Sascha Niemann ist es ein komisches Gefühl, an diesem Vormittag hier zu sein. Er war am 25. Januar zwar nicht dabei. Doch was passiert ist und wie Augenzeugen die Tat erlebt haben, weiß er genau. Denn der Diplom-Pädagoge mit therapeutischer Zusatzausbildung betreut Jugendliche, die an dem Tag im Zug saßen und begleitet Lehrerinnen und Lehrer.
Viele Betroffene haben Redebedarf
Direkt am Tag nach der Tat stand Stefan Niemann mit seinen Kollegen der Trauma-Ambulanz Westholstein an der anliegenden Gemeinschaftsschule mit Oberstufe Kellinghusen bereit, um mit Jugendlichen und Lehrkräften ins Gespräch zu kommen. Dort ging eines der Todesopfer früher zu Schule. Viele Schülerinnen und Schüler haben die Tat miterlebt. Mit mehr als 20 Jugendliche hat Sascha Niemann seitdem gesprochen. "Die meisten waren in einem Schockzustand", schildert er. Ein Schockzustand äußert sich durch wiederkehrende Bilder, kreisende Gedanken, Schlafstörungen oder, wenn Betroffene bestimmte Orte bewusst meiden oder sich zurückziehen. Manche Jugendliche waren dabei "erstarrt und emotionslos", anderen "in Tränen aufgelöst".
"Sie haben von Angstzuständen berichtet und Panikattacken, wollten wissen, wie sie die Bilder in ihrem Kopf loswerden und sich wieder sicher fühlen können" schildert der 46-Jährige. Viele hätten nach der Messerattacke auch Angst, wieder mit der Regionalbahn zu fahren. Sascha Niemann hat sich mit den Jugendlichen allein oder in Gruppen ausgetauscht, damit sie das Geschehene verarbeiten können, hat mit ihnen Beruhigungs- und Entspanungsübungen gemacht. Mit einem verängstigten Schüler ist er auch einmal gemeinsam zum Bahnsteig gegangen, hat sich schrittweise dem Ort des Geschehens genährt und dort mit ihm Übungen gemacht. Wichtig dabei sei, den Betroffenen klarzumachen, dass die Situation jetzt vorbei ist.
Auch Lehrerinnen und Lehrer suchen Gespräche
Sascha Niemann berät auch die Lehrerinnen und Lehrer der Schule. Sie standen ebenfalls unter Schock. "Die Gemeinde Brokstedt ist klein", erklärt der Diplom-Pädagoge. "Jeder kennt jeden und einige kannten die Opfer persönlich." Sascha Niemann berät sie und erarbeitet mit ihnen, wie sie mit ihrer eigenen Betroffenheit umgehen und das Thema im Klassenraum auffangen können. Seine Empfehlung: Den Raum für Gespräche öffnen und größtmögliche Normalität schaffen. Denn, wer so etwas erlebt braucht sichere Rahmenbedingungen und einen Alltag, der verlässlich ist. Für Lehrkräfte sei das ein Balance-Akt.
Für Sascha Niemann ist die Arbeit therapeutisch gesehen eine Herausforderung. "Das macht was mit einem, wenn da jemand in Tränen ausbricht", sagt er. Und: "Je mehr Informationen es gibt, beispielsweise zum Tatort, desto mehr belastet es." Manchmal sei es gut, nicht zu viele Details zu hören. Denn Details können auch zu einer Traumatisierung des Therapeuten führen, einer sogenannten "sekundären Traumatisierung". Deshalb sei es wichtig, die Emotionen der Betroffenen und die Detailbeschreibungen des Tatorts so gut es geht von sich fernzuhalten.
Rechtzeitig Hilfe holen ist wichtig
Betroffenen rät er, sich rechtzeitig Hilfe zu holen. Vor allem, wenn Schock-Symptome nicht verschwinden, wie zum Beispiel wiederkehrende Bilder oder Schlafstörungen. Ohne Hilfe bestehe die Gefahr eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln (kurz: PBMS). Von einer PBMS spreche man, wenn die Symtome eines Schocks länger anhalten, so Niemann. Manche Trauma-Symptome treten aber auch erst nach sechs bis acht Wochen auf. Deshalb rechnet er damit, dass in den folgenden Wochen noch mehr Arbeit auf ihn und seine Kollegen zukommen wird.
Das interdisziplinäre Team der Trauma-Ambulanz Westholstein bietet seit vergangener Woche eine offene Sprechstunde in Brokstedt an, in der kostenlos Gespräche geführt werden können. Auch für Schüler, Schülerinnen und Lehrkräfte der Gemeinschaftsschule in Kellinghusen stehen Sascha Niemann und sein Team weiter zur Verfügung. Er hofft, dass die Gesprächsangebote angenommen werden. Denn aus seiner bisherigen therapeutischen Erfahrung weiß Stefan Niemann, dass nicht bearbeitete Traumata zu Depressionen und anderen Krankheiten führen können. Deswegen seien die Gespräche mit Menschen, die Brokstedt hautnah miterlebt haben eine wichtige Prävention.