Jugendgewalt in SH: So groß ist das Problem in Mittelstädten
Heide ist zu einem Synonym für Jugendkriminalität geworden. Dabei steht die Stadt keineswegs an der Spitze der Statistik und die Zahlen steigen in vielen vergleichbaren Städten in SH. Experten sehen keinen Grund zur Panik.
Der Südermarkt, die Mädchengang, Gewalt am Bahnhof: Heide hat zuletzt immer wieder für schlechte Nachrichten gesorgt - oft bundesweit. Die mittelgroße Stadt im Kreis Dithmarschen ist zum Sinnbild einer scheinbar ausufernden Gewalt unter Kindern und Jugendlichen geworden. Dabei zeigt die gerade veröffentlichte Polizeiliche Kriminalstatistik einmal mehr, dass Heide keineswegs negativer Spitzenreiter ist - und mit seinen Problemen auch nicht alleine steht.
Das Landeskriminalamt (LKA) hat auf Anfrage von NDR Schleswig-Holstein die Zahlen für Gemeinden zwischen 20.000 und 30.000 Einwohnern für die zurückliegenden vier Jahre ausgewertet: Neben Heide sind das Bad Oldesloe, Reinbek (Kreis Stormarn), Bad Schwartau (Kreis Ostholstein), Eckernförde, Rendsburg (Kreis Rendsburg-Eckernförde), Henstedt-Ulzburg, Kaltenkirchen (Kreis Segeberg), Husum (Kreis Nordfriesland), Quickborn (Kreis Pinneberg) und Schleswig (Kreis Schleswig-Flensburg).
Aktuelle Kriminalitätsstatistik: Rendsburg vorne
Die meisten Fälle von Jugendkriminalität gibt es demnach in Rendsburg - ihre Zahl stieg im vergangenen Jahr sogar von 345 auf 405. Heide verzeichnet zwar einen größeren prozentualen Anstieg als Rendsburg (20,19 Prozent im Vergleich zu 17,39 Prozent), liegt mit 256 Fällen aber "nur" auf Platz drei. Dazwischen: Schleswig mit nur wenig mehr Einwohnern als Heide und mit 349 Fällen von Jugendkriminalität. Dazu gehören zum Beispiel Diebstähle, Erpressungen, Körperverletzungen oder sexuelle Übergriffe, wobei Diebstähle sowie schwere und einfache Körperverletzungen zahlenmäßig am bedeutsamsten sind.
Auffallend ist, dass die Zahlen in den vergangenen Jahren in den meisten Mittelstädten (Städte zwischen 20.000 und 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern) stetig zugenommen haben. Das trifft auch auf den Zeitraum von 2022 bis 2023 zu. Nur in Eckernförde (226 auf 191) und Bad Schwartau (145 auf 90) sind die Fälle deutlich und in Bad Oldesloe (198 auf 194) leicht zurück gegangen. Besonders zugenommen haben die Zahlen wiederum in Reinbek mit einem Plus von 63 Prozent, wobei die absolute Zahl in 2023 bei 85 lag.
Ebenfalls auffällig: In allen ausgewerteten Gemeinden ist die Kriminalität unter Kindern tendenziell gestiegen - in Heide zum Beispiel von 18 Fällen in 2020 auf 46 Fälle in 2023 oder in Rendsburg von 59 auf 91. Besonders oft kommen Fälle in dieser Gruppe bei Zehn- bis Zwölfjährigen sowie bei zwölf- bis 14-jährigen Kindern vor.
Experte für Intensivpädagogik: "Fallzahlen unspektakulär"
Doch wie kritisch ist diese Entwicklung - und verläuft sie in Schleswig-Holstein anders als im Rest von Deutschland? Für Professor Menno Baumann ist sie "unspektakulär": "Diese Entwicklungen sehen wir deutschlandweit und wir liegen insgesamt weit hinter den Zahlen, die wir mal hatten", sagt der Experte für Intensivpädagogik und soziale Arbeit mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe. Auch Professor Thomas Bliesener, Direktor des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen spricht von deutlich höheren Fallzahlen um die Jahrtausendwende. "Seitdem nahm die Jugendkriminalität stetig ab und nimmt erst seit 2019 wieder zu, wobei es während der Pandemie noch einmal eine deutliche 'Corona-Delle' gab", so Bliesener.
Diese Corona-Delle wiederum sehen beide Experten auch als einen Grund für den stärkeren Anstieg in den vergangenen zwei, drei Jahren: "Während der Pandemie sehen wir einen starken Rückgang bei den Körperverletzungen, was vollkommen logisch ist, weil Schulhöfe, Kneipen, Diskotheken und Clubs als klassische Tatorte ausfielen", so Baumann. Zudem gebe es ein Entwicklungsalter, in dem Kinder und Jugendliche Grenzen austesteten, und dazu gehörten mitunter auch Körperverletzungen. Baumann sieht einen gewissen Nachholeffekt: "Jetzt sind zwei, drei Jahrgänge gleichzeitig aktiv, die wir sonst getrennt gehabt hätten."
Anstieg Kriminalität: Corona-Effekt, Bevölkerungszuwachs, sensible Eltern
Für Thomas Bliesener spielt die Pandemie ebenfalls eine wichtige Rolle. Er verweist auf möglicherweise entstandene Defizite im sozialen Umgang, vor allem auch im Umgang mit Konflikten und ihrer Schlichtung: "Wenn Vereine, Schulen und Jugendzentren geschlossen sind, können wichtige soziale Kompetenzen nicht erprobt und erlernt werden", so Bliesener. Ein weiterer Corona-Effekt laut Bliesener: Kinder und Jugendlichen verfügten über deutlich teurere Geräte, die erstens öfter geklaut werden und zweitens zu vermehrten Anzeigen durch Eltern führen.
Kriminologe: Migration selbst ist kein Faktor
Thomas Bliesener nennt aber noch einen anderen, ganz einfachen möglichen Grund für den Anstieg: "Wir sprechen über absolute Zahlen, sodass die Zunahme der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen zum Teil auch einfach auf den Bevölkerungszuwachs in dieser Altersgruppe zurückzuführen ist." Seit 2019 seien viele Kinder und Jugendliche aus der EU zugewandert sowie als Flüchtlinge ins Land gekommen. Dass Migration selbst ein Faktor ist, wie häufig behauptet, weist Bliesener zurück: "Wir wissen, dass Menschen, die Ausgrenzungserlebnisse machen, also zum Beispiel wenig Bildung und damit Perspektive haben, von Armut betroffen sind und in schlechten Wohnverhältnissen leben, dass diese Menschen eher zu Gewalt neigen", so Bliesener. "Der Faktor Migration ist häufig mit diesen Defiziten verbunden, aber nicht selbst ein Faktor."
Medieneinfluss: Geänderte öffentliche Wahrnehmung
Sowohl für Thomas Bliesener als auch Menno Baumann ebenfalls ein wichtiger Aspekt: die geänderte Medienwelt. "Über das Internet und die Sozialen Netzwerke bekommen wir kleinste Vorfälle aus dem hintersten bayrischen Wald mit und einmal draufgeklickt, schlagen Algorithmen ständig ähnliche Inhalte vor", erklärt Thomas Bliesener. "Die Wahrnehmung der Öffentlichkeit koppelt sich von den Daten und Fakten ab."
Auch Menno Baumann erinnert daran, dass es Anfang der 90er-Jahre in Berlin eine der aktivsten Phasen von Jugendgewalt gegeben habe - und darüber außerhalb der heutigen Bundeshauptstadt kaum einer berichtet habe. Hinzu komme ein gewisser "Aufschaukelungsprozess": Kinder und Jugendliche sehen etwas in den Sozialen Netzwerken - und eifern dem nach.
In Hilfe investieren
Thomas Bliesener sagt, dass man die Entwicklung trotz allem nicht bagatellisieren, sondern aufmerksam beobachten solle. Vor allem sei es aber falsch, von "der Jugend" zu sprechen: "In der großen Masse gibt es keinen Anstieg der Gewalt, sondern wir gehen davon aus, dass Einzelne krimineller werden."
Menno Baumann hält es für fatal, dass die Jugendlichen zuletzt immer mehr vernachlässigt wurden und Infrastruktur zum Beispiel auch in der Therapiehilfe fehle. "Wir sehen eine schlechte Versorgung von Jugendlichen mit individuell schweren Problemlagen, die mitunter auf eine Gruppe von Jugendlichen treffen, die empfänglich sind - und dann knallt es punktuell mal ganz heftig."