Irrläufer in der Notaufnahme: Chronische Anspannung
Die Notaufnahmen stehen unter Druck. Da ist es umso ärgerlicher, wenn Patienten kommen, die auch woanders behandelt werden könnten. Ein Situationsbericht aus Schleswig-Holstein.
Der Mann mit den Halsschmerzen sollte eigentlich nicht hier sein - untersucht wird er trotzdem. Dass er die Notaufnahme am Städtischen Krankenhaus in Kiel ansteuerte, begründet er damit, dass er in der kommenden Woche heirate. Er fragt sich, ob er vielleicht Antibiotika braucht. "Sonst wäre ich jetzt nicht hierher gekommen", lächelt er entschuldigend.
Dr. Sabine Jobmann, Leiterin der zentralen Notaufnahme, kennt so etwas schon. "Das sehen wir täglich", sagt sie. Jeder Patient kostet Zeit. Dazu komme die Bürokratie.
"Chronisch angespannt" nennt Patrick Reimund von der Krankenhausgesellschaft (KGSH) die Lage in den schleswig-holsteinischen Notaufnahmen. Das hat natürlich auch viel mit Personalmangel und Zeitdruck zu tun. Aber auch die Patienten, die nicht in die Notaufnahme gehören und trotzdem dort auflaufen, werden aus Reimunds Sicht ein größeres Problem. "Die Inanspruchnahme der Notaufnahmen in den Krankenhäusern steigt kontinuierlich an", stellt er fest.
Ein Pflasterwechsel ist kein Notfall
Das bestätigt auch Henrik Herrmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein. Immer häufiger kämen Patientinnen und Patienten mit leichten oder nicht akut behandlungsbedürftigen Beschwerden, obwohl sie im ambulanten Bereich hätten versorgt werden können - manchmal sogar keine ärztliche Behandlung benötigt hätten. "Zum Beispiel dann, wenn es nur darum geht, eine Wunde mit einem Pflaster abzudecken."
Um den Jahreswechsel und im vergangenen Herbst war es besonders schlimm. Die Notaufnahmen waren durch Krankheitsfälle, Fachkräftemangel und Pandemiebekämpfung völlig überlastet. Eine Task-Force Notfallversorgung im Gesundheitsministerium kümmerte sich mit Kliniken und Kassenärzten um eine Informationskampagne in verschiedenen Sprachen. Man appellierte mehrfach an die Bevölkerung, wirklich nur im akuten Notfall ins Krankenhaus zu gehen.
KGSH-Geschäftsführer Reimund beobachtet, dass solche Appelle eine Zeit lang helfen. Doch nach einer Weile ist dann wieder alles beim Alten.
Telefonisch: Der ärztliche Bereitschaftsdienst
Dabei gibt es andere Anlaufstellen für Patienten - zum Beispiel die 116 117, die Rufnummer des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes der Kassenärztlichen Vereinigung. Dort können Menschen anrufen, wenn sie nicht lebensbedrohlich erkrankt sind, aber auch nicht bis zur nächsten Sprechstunde beim Hausarzt warten können. 290.000 Anrufe gab es bei der Leitstelle des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes in Bad Segeberg im vergangenen Jahr.
Dort nimmt das Team von Bianca Thode die Anrufe von Menschen entgegen, die medizinische Versorgung brauchen, und vermittelt sie "in die richtige Versorgungsstruktur". Heißt: Das medizinische Fachpersonal fragt Symptome ab und entscheidet dann, was für den Patienten nötig ist. Die Mitarbeitenden vermitteln Haus- und Fachärzte, beraten per Video, schicken möglicherweise auch einen Bereitschaftsarzt nach Hause zum Patienten.
Auch Notfälle laufen bei der 116 117 auf: "Wenn jemand seit 20 Jahren Rückenschmerzen hat, dann obliegt die medizinische Versorgung tatsächlich dem behandelnden Hausarzt", sagt Bianca Thode. "Ist es aber ein hochbetagter Patient, der gestürzt ist und jetzt wirklich akute Beschwerden hat, würden wir natürlich eine ganz andere Versorgungsebene wählen." Zum Beispiel den Rettungsdienst. Man federe viel ab, sagt Thode.
Vor Ort: Die Anlaufpraxis
Es kann auch sein, dass die Leitstellen-Mitarbeitenden Hilfesuchende in eine der 44 Anlaufpraxen im Land schicken. In der Regel sind die an den Krankenhäusern angesiedelt. Eine Anlaufpraxis ist quasi eine Feierabend-Hausarztpraxis. Dr. Rolf Staiger leitet die Anlaufpraxis am UKSH in Lübeck. Auch dort wird zuerst geguckt, welche Art der Versorgung ein Patient oder eine Patientin braucht. Falls es sich doch um einen Notfall handelt, ist die Notaufnahme direkt nebenan. Wie die 116 117 decken auch die Anlaufpraxen vor allem die Zeit ab, in denen Ärztinnen und Ärzte keine Sprechstunden mehr anbieten - etwa abends oder am Wochenende.
Rund um die Uhr sind die Anlaufpraxen nicht besetzt. "Nachts um drei ist das Krankenhaus alleine", sagt Patrick Reimund von der Krankenhausgesellschaft. Dr. Rolf Staiger kontert: Das sei zwar richtig, aber nachts um drei komme auch nicht die Masse der Patienten. Die komme nach Schließung der Arztpraxen bis abends um 23 Uhr. "Und da sind wir da", sagt Staiger. "Da versorgen wir alles."
Warum trotz all dieser Angebote immer wieder Menschen mit Bagatellen in die Notaufnahme gehen, liegt aus seiner Sicht daran, dass immer mehr jüngere Menschen keinen Hausarzt haben. Das bestätigt auch Reimund. Er sieht noch diverse andere Gründe. So könne es bei Migranten vorkommen, dass sie die Strukturen des Gesundheitssystems schlicht nicht kennen.
Kliniken sehen auch Ärztemangel als Grund
Dass die Notaufnahmen immer stärker genutzt werden, hänge laut Reimund mit der die Versorgung im ambulanten Bereich durch Vertragsärzte zusammen. Die sei sicherlich in den letzten Jahren nicht besser geworden, sagt er. "Die Erreichbarkeit von ambulanter Versorgung ist tendenziell etwas schlechter geworden."
Im Kreis Nordfriesland berichtet Klinikgeschäftsführer Stephan Unger, dass im mittleren Kreisgebiet neun Hausarztsitze nicht besetzt sind. Dadurch verlängerten sich Wartezeiten, neue Patienten würden nicht aufgenommen. "Entweder gehen die Patienten dann in die KV-Anlaufpraxis oder kommen eben zu uns in die Notaufnahme", sagt der Geschäftsführer des Klinikums Nordfriesland.
Kassenärzte sehen keinen Zusammenhang mit Ärztemangel
Henrik Herrmann von der Ärztekammer Schleswig-Holstein rechnet damit, dass der Druck auf die Notfallambulanzen noch zunehmen wird: Denn der demografische Wandel wird auch bei den Hausärzten durchschlagen.
Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein sind im ganzen Land momentan circa 65 Hausarztstellen unbesetzt - bei insgesamt 1.924 Hausärzten. Der größte Mangel herrscht laut KVSH "an der Westküste, im Südosten des Landes und im Hamburger Randbereich". Einen Zusammenhang zwischen unbesetzten Arztsitzen und überfüllten Notaufnahmen sehe man aber nicht.
Da die Kliniken ihre ambulanten Notfälle über die KV abrechneten, müsse man sich nicht auf "Gefühltes" verlassen, sondern könnte für jede Region eine Zahlenbasis herstellen, so die KVSH.
Gesundheit auf den Lehrplan?
Die Lösungen, die für die Notaufnahmen diskutiert werden, sind so vielfältig wie die Ursachen. Die Appelle und Informationskampagnen, etwa für die 116 117, sind das eine. Kliniken und Ärztevertreter sehen aber auch Nachholbedarf, wenn es um die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung geht. Denn die Gesellschaft hat sich gewandelt. Früher, sagt Ärztekammerpräsident Herrmann, habe die Großmutter noch den Verband gewechselt. Das fehle jetzt: "Und deshalb wird eben auch aus Unkenntnis eine Notaufnahme aufgesucht".
Um das zu ändern, könnten Kinder schon in der Schule lernen, wie sie mit verschiedenen Krankheiten oder Verletzungen umgehen. "Das ist ein Thema, das wir in den nächsten Jahren verstärkt angehen müssen", sagt Henrik Herrmann. Auch KGSH-Geschäftsführer Reimund hält das für sinnvoll.
Bund will Strukturen verbessern
Dass die Notaufnahmen Unterstützung brauchen, hat zuletzt auch die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) einberufene Expertenkommission festgestellt: "Aufgrund einer stark zunehmenden 'Auffangfunktion' für andere Versorgungsstrukturen leidet die Notfall- und Akutmedizin besonders unter den Defiziten des übrigen Gesundheitswesens, wie etwa der unzureichenden Digitalisierung, dem demographischen Wandel oder dem Personalmangel", schreiben die Experten in ihrer Stellungnahme. Verstärkt wird das aus ihrer Sicht dadurch, dass die Notfallmedizin in drei verschiedene und "bisher wenig abgestimmte" Bereiche aufgeteilt ist, nämlich Kliniken, KV-Praxen und Rettungsdienste der Länder.
Der Lösungsvorschlag der Experten enthält zwei wesentliche Elemente. Das erste sind neue Leitstellen, die die Rufnummern 112 und 116 117 verbinden - und rund um die Uhr erreichbar sind. Dort sollen Patienten nach einer Ersteinschätzung dorthin vermittelt werden, wo sie hingehören. Das zweite sind Notfallzentren an den Kliniken: Sie bestehen aus Notaufnahme und Anlaufpraxis sowie einer zentralen Anlaufstelle, an der Patienten in die richtige Richtung gelenkt werden.
Das ähnelt dem, was es unter dem Begriff "Portalpraxen" schon an verschiedenen Orten gibt. Entscheidend ist der Grundgedanke eines "gemeinsamen Tresens" von niedergelassenem und stationären Bereich.
Digitalisierung lässt auf sich warten
Bei der Zusammenarbeit der verschiedenen Säulen der Notfallversorgung sieht Chefärzin Dr. Sabine Jobmann noch Luft nach oben und wünscht sich von der Politik, dass die Bereiche besser aufeinander abgestimmt werden - etwa bei der Digitalisierung: "Wir reden über künstliche Intelligenz und schaffen es noch nicht mal, dass das digitale Rettungsprotokoll vom Rettungswagen bei uns in den Computer wandert, sondern das wird ausgedruckt - und dann scannen wir es ein."
Die Notfallpraxis ist zwar am anderen Ende des Ganges, sagt Jobmann, aber: "Wenn die einen Patienten her schicken, dann können wir nicht auf deren Befunde zugreifen. Das muss alles eingescannt oder nochmal neu dokumentiert werden."
Milch mit Honig statt Schockraum
In der Notaufnahme sind inzwischen weitere Patienten angekommen. Chefärztin Sabine Jobmann hat den heiratswilligen Mann mit den Halsschmerzen untersucht. Ein Antibiotikum brauche der Mann nicht, meint sie. Rezepte können die Notärzte hier ohnehin nicht ausstellen. Deshalb empfiehlt sie dem Mann heiße Milch mit Honig oder eine Gurgellösung. Und, sollte es nicht besser werden: einen Besuch beim Hausarzt.