"Ich bin kein Täter" - Wie der Hass auf ausländisch aussehende Mitbürger wächst
Seit etwa zehn Jahren beobachten Wissenschaftler eine zunehmende Gesamtradikalisierung der Gesellschaft in Sachen Fremdenhass. Besonders davon betroffen sind Muslime.
Manchmal sind es die kleinen Dinge, die Menschen nach und nach zermürben. Durch ihre Kontinuität und ihre scheinbare Unabwendbarkeit. Ein hässlicher Kommentar im Netz, abwertende Blicke im Bus und scheinbar beiläufige Bemerkungen, die noch lange hängenbleiben. "Es macht mit den Menschen etwas. Alle, die berichtet haben, haben erwähnt, dass sie dadurch sehr emotional angeschlagen sind. Man merkt das auch im Nachhinein, das heißt, die brauchen viel Zeit, um das zu verarbeiten", erzählt Hasib Ghaman. Er ist Kieler, Muslim und Imam und spürt alltäglichen Rassismus - sowohl durch eigene Erfahrungen als auch durch Erzählungen seiner Gemeindemitglieder.
"Hast du eine Bombe unter deinem Kopftuch?"
Da ist die Bemerkung der Ärztin während einer Schwangerschaftsuntersuchung: "In Deutschland geboren und trotzdem noch Kopftuch." Da ist die Frage an einen Mann in einem Hotel gehobenerer Preisklasse, wie er sich das denn leisten könne. Oder der Vorwurf - "Ihr macht uns hier alles kaputt!" - für ein schief geparktes Auto. Da sind die Absagen für Praktikums- oder Ausbildungsplätzen, die dann Bewerbern ohne Migrationshintergrund gegeben werden. Das Verhalten des Kassierers, das deutlich reservierter ist als bei dem Kunden davor. Da sind die Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die neben Fahrradständern stehen, sich unterhalten und von Passanten verdächtigt werden, Fahrräder klauen zu wollen. Da ist die junge Frau, die im Bus gefragt wird: "Hast du eine Bombe unter deinem Kopftuch?"
"Es sind manchmal "Kleinigkeiten" oder man ist ein bisschen stumpf geworden und nimmt sie nicht mehr ganz wahr, aber tatsächlich merkt man, dass es hier und da immer wieder vorkommt", erzählt Ghaman. Und es wird eher mehr als weniger. Ghaman spricht von Bausteinen, die seinem Empfinden nach das Feindbild des Islam Stück für Stück festigen. Angefangen bei den verheerenden Anschlägen in den USA am 11. September 2001 über die Flüchtlingsströme 2015 bis hin zu Anschlägen wie Brokstedt, bei denen Menschen ausländischer Herkunft zu den mutmaßlichen Tätern gehören.
"Wir beobachten eine alarmierende Zunahme von rassistischer Hasskriminalität mit einem jährlichen Zuwachs von 2,5 Prozent", bestätigt auch Soziologe Vassilis Tsianos von der Fachhochschule Kiel. Das könne laut Tsianos unter anderem daran liegen, dass seit etwa zehn Jahren eine Gesamtradikalisierung der Bevölkerung zu beobachten sei, die sich auch politisch im rechten Spektrum artikuliere. "Wir stellen fest, dass 21 Prozent der Bevölkerung in Deutschland ein noch nicht formiertes, aber manifestes rechtsnationales Profil hat, mit unterschiedlichen Abstufungen, was die Duldung von Gewaltverbrechen betrifft", so Tsianos weiter.
Hohes Niveau fremdenfeindlich motivierter Straftaten seit 2015
Ein Blick in aktuelle Statistiken zeigt: 2015 gab es einen enormen Sprung in den Zahlen der erfassten, fremdenfeindlich motivierten Straftaten. Seitdem haben sie sich auf dem hohen Niveau eingependelt. 2021 wurden laut der Statistik zur politisch motivierten Kriminalität deutschlandweit über 9.000 fremdenfeindliche Verbrechen registriert. Vor 2015 waren es noch unter 4.000. Das schleswig-holsteinische Innenministerium erklärte auf Anfrage, dass 2021 im nördlichsten Bundesland 135 rassistisch motivierte Straftaten registriert wurden. Der Verfassungsschutzbericht Schleswig-Holstein 2021 stellt fest, dass im Berichtszeitraum 28 Menschen in Schleswig-Holstein verletzt wurden oder werden sollten, "weil ihr äußeres Erscheinungsbild eine ausländische Herkunft beim Gegenüber suggerierte." Und das ist kein Problem bestimmter Ballungsorte. Das Zentrum für Betroffene rechter Angriffe ZEBRA registrierte 2021 in Schleswig-Holstein in jedem Landkreis mindestens einen Vorfall rechter Gewalt.
Sorge vor tätlichen Übergriffen
Was diese Zahlen nicht zeigen, sind die vielen nicht angezeigten Fälle und die Angst, die der Hass bei betroffenen Menschen schürt. Hass, der vor allem nach Anschlägen oder Übergriffen durch ausländisch aussehende Menschen in den Sozialen Netzwerken Wellen schlägt. Und die Angst, dass es nicht bei Worten bleibt.
Auch unter Postings von NDR Schleswig-Holstein in den Sozialen Netzwerken ist dieser Hass in den letzten Jahren immer deutlicher und häufiger zu lesen. "Ich geh nur noch bewaffnet nach draußen, irgendwann ist Schluss!!!", "Raus mit denen, die gemordet haben, entweder aus dem Land oder zum Steinigen auf den Marktplatz, ich frage mich eh warum der lebend aus dem Zug gekommen ist", "Die Drecksau gehört an die Wand, die ganzen Ölaugen, die hier kommen sind Terroristen Frauenhasser und Kinderfic.", "Migrantenpack", "Mördergesindel". Der Verfassungsschutzbericht Schleswig-Holstein 2021 sieht in Social Media-Plattformen eindeutig Orte der Radikalisierungsförderung, die dann in politisch motivierte Straftaten münden könnten. "Auch wenn viele der rechtsextremistischen Internetakteurinnen und Internetakteure nicht realweltlich in Erscheinung traten, versuchten sie dennoch, andere Nutzerinnen und Nutzer für rechtsextremistische Ideologien zu gewinnen und durch Hetze und Aufstachelung zu politisch motivierten Straftaten anzustiften", so die Autoren.
Einen tatsächlichen Anstieg von Straftaten nach Anschlägen wie Brokstedt konnte in der Recherche nicht festgestellt werden. Doch die Betroffenenberatung ZEBRA beobachtet nach Angaben des Innenministeriums insgesamt, dass Klientinnen und Klienten nach solchen Taten berichten, dass sie Sorge haben, verstärkt mit Ablehnung, Vorurteilen und Diskriminierung konfrontiert zu werden. Eine kleine Umfrage unter den jüngeren Mitgliedern in Ghamans Gemeinde ergab, dass eine Mehrheit der Befragten merke, dass es nach terroristischen Anschlägen vermehrt zu rassistischen Vorfällen komme. Auf die Frage, ob bei all den Worten und Handlungen auch bei ihm Angst mitschwinge, dass es sich irgendwann in gewalttätigen Handlungen Bahn bricht, antwortet Ghamen mit "Ja, sicherlich". Oft kämen Übergriffe zwar nicht vor, doch sie kämen vor. Trotzdem fühle er sich in Deutschland grundsätzlich wohl und sicher.
"Im Anschluss an solche schrecklichen Ereignisse beobachten wir eine zunehmende Manifestation von rassistischen Mikroaggressionen", bestätigt auch Tsianos. Manchmal würden diese dann auch die Form von rassistischen Gewalttaten annehmen. "Die muslimische Bevölkerung in unserem Land ist davon am meisten betroffen." Anschläge sorgten für die Verbreitung einer Art Panik, erklärt der Soziologe, die dann aggressive Formen annehme, das könne man spüren.
Das Netz sei allerdings eine Radikalisierungsmaschine, die sehr verbal funktioniere, ordnet Tsianos Hasskommentare im Netz ein. Allerdings sei das Internet kein Seismograph von Radikalisierung. Es könne aber dafür genutzt werden, Radikalisierungetendezen und Personen zu rekrutieren. "Hasskriminaliät im Netz spielt eine Rolle und es attackiert Menschen. Die gesellschaftliche Relevanz dieser Netzdiskussionen ist aber nicht als hoch einzuschätzen."
"Wir müssen zusammen leben"
Hasib Ghaman möchte für Alltagsrassismus sensibilisieren. "Ich finde es schade, dass die Tat eines Einzelnen auf eine größere Gruppe projiziert wird und dann geht eine riesige Debatte los". Diese Debatte über Integration sei wichtig, doch würde sie oft so undifferenziert geführt, dass bei Menschen der Eindruck entstehen kann, dass beispielsweise von allen Flüchtlingen eine Gefahr ausginge. Auch die Medien spielten dabei eine Rolle, wenn sie statt mit über Muslime reden. Die große Mehrheit der gut integrierten Menschen mit Migrationshintergund würde dabei übergangen.
"An manchen Orten sind die Leute offener, an anderen weniger. Und das interessante ist, dass dort, wo weniger Muslime sind, hat man mehr Angst vor Muslimen", erzählt Ghaman. Menschen hätten Fremdem gegenüber Vorbehalte, das gehe ihm ganz genauso. Gespräche und einander kennenlernen sind nach Ghamans Meinung die besten Mittel, um Rassismus und Vorbehalten entgegenzuwirken. Mit seiner Gemeinde versucht er dafür aktiv Raum zu schaffen, beispielsweise bei Tagen der offenen Tür in der Moschee oder Gesprächsangeboten in der Innenstadt. Aber auch bei der Lehre innerhalb der Moschee lege er Wert darauf, ein friedvolles und respektvolles Miteinander zu propagieren. Und auch privat bewege er sich in keiner rein muslimischen Blase, erzählt Ghaman, sondern suche aktiv den Kontakt mit anderen Menschen, sei es im Fußballverein, in der Nachbarschaft oder über Schule und Kindergarten seiner Kinder. "Wir leben in einer Gesellschaft, wir leben in Deutschland, wir müssen zusammen leben. Ohne einen friedlichen Zusammenhalt, werden wir nicht miteinander auskommen."
Eine politische Angelegenheit
Kennenlernen könne helfen, sei aber nicht zu priorisieren. Das ist eine politische Angelegenheit, widerspricht der Soziologe Vassilis Tsianos. "Es geht nicht mehr ums Kennenlernen. Wir haben uns kennengelernt". Es gehe darum, die Täter zu kriminalisieren, Möglichkeiten der Deradikalisierung zu schaffen, es brauche aktivere Deradikalisierungsprojekte für Aussteiger aus rechtextremistischen Kontexten. "Und wir müssen die politisch verantwortlichen Parteien marginalisieren und sie dahin schicken, wo sie ursprünglich waren: nämlich bei zwei oder drei Prozent."