Holocaust-Überlebender blickt auf Stutthof-Prozess zurück
Im Alter von drei Jahren wird Josef Salomonovic deportiert, er überlebt acht Konzentrationslager - darunter auch jenes in Stutthof. Fast 80 Jahre später tritt als Zeuge im Prozess gegen die ehemalige Sekretärin des KZ auf - morgen wird das Urteil erwartet. Hier erzählt der heute 84-Jährige seine Geschichte.
Am liebsten möchte er alles erzählen. Jedes Detail. Alle Details seien wichtig. Die Deportation von Märisch-Ostrau ins Ghetto Łódź (Litzmannstadt) und von da aus nach Auschwitz und in viele weitere Lager - acht waren es insgesamt. Auf dem Wohnzimmertisch liegen Akten dazu bereit, Fotos und Zeitungsartikel.
Aber erstmal soll es um die Gegenwart gehen. Mit seiner Frau Elisabeth sitzt er am Esstisch ihrer Wohnung im dritten Stock eines großen genossenschaftlichen Mietshauses in Wien, Österreich. Hier leben sie seit 1971. Der Laptop ist aufgeklappt, seine Frau liest ihm vor:
"All the women working at the camp were part of the SS organization ..."
Mit ihr zusammen hält er sich seit mehr als 14 Monaten über den Stutthof-Prozess auf dem Laufenden. Er bekommt regelmäßig Berichte von seinem Anwalt. Sie sind auf Englisch geschrieben, weil andere Mandanten zum Teil kein Deutsch sprechen.
Er weiß, dass die Staatsanwaltschaft zwei Jahre Jugendstrafe auf Bewährung für die 97 Jahre alte Angeklagte fordert. Wie das Landgericht am Ende entscheidet, dazu könne er nicht viel sagen. Dazu fehlten ihm die juristischen Kenntnisse. "Das liegt bei dem Richter. Nicht bei mir. Ich sage nur, es ist 80 Jahre zu spät und jetzt wühlt das in meinem Kopf und in meiner Seele", erklärt er.
Salomonovic wollte nicht als Zeuge auftreten
Josef Salomonovic war der erste Überlebende, der in Itzehoe (Kreis Steinburg) vorm Landgericht als Zeuge ausgesagt hat. Und der einzige, der persönlich im Gericht erschienen ist. Vor ziemlich genau einem Jahr. Es war der siebte Prozesstag im Verfahren gegen die Stenotypistin des Lagerleiters im KZ Stutthof, Irmgard F.
Josef Salomonovic erinnert sich an seinen Widerwillen, nach Itzehoe zu fahren: "Meine Frau wollte das, der Rechtsanwalt wollte das. Ich wollte es nicht. Die F. zu sehen und zwei Stunden zu reden, in einem Saal, persönlich. Das hat wehgetan." Seine Frau erwidert: "Aber du siehst ein, dass es wichtig war." Und er sagt: "Wichtig war's."
Deportation im Kindesalter
Er nimmt einen silbernen Teelöffel aus einer Schachtel. Den hatte er immer bei sich. Damit konnte er wässrige Suppe im KZ essen. Dann nimmt er noch etwas aus der Schachtel: ein kleines Metall-Flugzeug mit Propeller. Das hatte er nach der Befreiung von einem amerikanischen Soldaten geschenkt bekommen - sein erstes Spielzeug nach drei Jahren. Der Löffel und das Flugzeug: seine einzigen Habseligkeiten von damals.
Josef Salomonovic war drei Jahre alt, als er 1941 mit seiner Familie deportiert wurde. Insgesamt acht Lager hat er als Kind überlebt. "Es ist eine schwere Last," sagt er, "natürlich. Aber die muss ich schlucken. Mit der kann man nicht auf der Straße herumgehen und jemandem erzählen." Wenn er spricht, ist zu hören, dass Deutsch nicht seine Muttersprache ist. Als Kind sprach Salomonovic vor allem Tschechisch und Jiddisch.
Mord am Vater in Stutthof
Von seiner Zeit als Gefangener der Nazis erzählt Salomonovic regelmäßig in Schulen. Außerdem hat er vor vier Jahren mit einem österreichischen Dokumentarfilmer einen Film über seine Leidensgeschichte gedreht - für seine Kinder und alle jungen Menschen, die Interesse daran haben. Auch nach Stutthof ist er dafür gefahren. Stutthof hat für ihn eine große Bedeutung, "weil dort wurde mein Vater ermordet."
Er sitzt auf seinem blauen Ledersofa und schaut den Film, der den Titel "Pepek" trägt. Pepek war sein Spitzname, als er klein war. In einer Szene filmt die Kamera, wie er an einem Stacheldrahtzaun entlanggeht und in ein Gebäude hineingeht. Es ist die Krankenbaracke im KZ Stutthof. Dann steht er in dem ehemaligen Behandlungszimmer, darin ein Behandlungstisch, dahinter ein Foto. Darauf sind Spritzen zu sehen und er sagt: "Da hatte sich mein Vater gemeldet, dass er Medizin möchte. Dann hat er sich auf diesen Tisch gelegt. Mit einer Benzol-Spritze ins Herz haben sie ihn umgebracht. Dort sieht man sogar die Trage."
Keine Zweifel an Schuld von Irmgard F.
Er öffnet einen Ordner und zieht ein Dokument aus einer Klarsichthülle. Es ist ein Dokument, das bei der Ankunft von Familie Salomonovic über Josefs Vater Erich angelegt wurde. Mit all seinen Daten. Bei Wohnort steht "Tod", in der oberen Ecke ist ein rotes Kreuz aufgemalt und der Todestag mit einem Stempel vermerkt: 17. September 1944. "Das ist der Stempel von F. gemacht", sagt er. Er meint die Angeklagte Irmgard F. und ergänzt: "Das hat sie gestempelt." Einen Beweis gibt es dafür nicht.
Sechs Jahre alt war Josef Salomonovic, als sein Vater heimtückisch ermordet wurde. Irmgard F. war zu diesem Zeitpunkt nur 13 Jahre älter als er. Aber es lagen Welten zwischen den beiden. Laut Staatsanwaltschaft ist bewiesen, dass sie als Sekretärin eine Schlüsselposition innerhalb des Mordsystems im KZ Stutthof hatte, dass alle Schriftstücke über ihren Schreibtisch gegangen sind.
Das Strafmaß spielt keine Rolle
Josef Salomonovic und seine Frau sind von ihrer Schuld überzeugt. Morgen wird in dem Prozess vor dem Landgericht Itzehoe das Urteil gegen die frühere Sekretärin erwartet. Das Strafmaß ist ihnen aber nicht so wichtig. Wichtig ist ihnen nur, dass sie verurteilt wird. "Das ist eine symbolische Sache", erklärt Josef Salomonovic und seine Stimme bekommt mehr Nachdruck, als er fast ruft: "Es ist eine Frage der Gerechtigkeit. Für den Staat. Für Deutschland. Für das Gewissen." Und auch für die nachfolgenden Generationen, sagt er. Damit sie begreifen, dass auch die Beihilfe an einem Verbrechen wie dem Holocaust zu bestrafen ist.