Henstedt-Ulzburg: Von der Zollstelle zum Speckgürtel
Bilder von früher im Vergleich mit Fotos von heute - möglichst aufgenommen von exakt derselben Position: Das ist das zentrale Element der Serie "Schleswig-Holstein früher und heute". So wollen wir den Wandel der Städte im nördlichsten Bundesland dokumentieren. NDR Autoren tauchen in die Stadtarchive ein. Dabei fördern sie persönliche Geschichten und historische Aufnahmen zu Tage, die teilweise in großem Kontrast zur Gegenwart stehen. Ein interaktiver Foto-Vergleich macht das besonders deutlich.
von Maja Bahtijarević
Mit einer großen Lupe betrachtet Volkmar Zelck ein Bild aus dem frühen 20. Jahrhundert. Die schwarz-weiße Fotografie zeigt eine Gruppe Kinder und Jugendlicher in altertümlicher Kleidung, die auf dem vereisten Dorfteich Wöddel in der Mitte Henstedts stehen. "Das muss nach 1912 sein, da stand die Schule ja schon", sagt er. Sein Büro hat der Archivar Henstedt-Ulzburgs im Rathaus im Ortsteil Ulzburg. "Wir nennen uns gerne 'das größte Dorf Schleswig-Holsteins’ - wobei, das stimmt so ja auch." Nördlich von Hamburg gelegen, entstand die Gemeinde mit heute etwa 28.000 Einwohnern durch eine Reform 1970 als Zusammenschluss Henstedts, Ulzburgs und Götzbergs. Mit der Zeit gibt es zwei Teile mehr, Henstedt-Rhen und Ulzburg-Süd. "Als wir vor ein paar Jahren einen Bürgerentscheid hatten, ob wir zur Stadt werden sollen, hat der Großteil dagegen gestimmt", erinnert sich Zelck.
Die Hamburger Straße liegt im Herzen Ulzburgs. Entlang der als Heeresstraße entstandenen Handelstangente ist der Ort entlanggewachsen. Heute liegt dort das Verwaltungszentrum Henstedt-Ulzburgs. (Mit dem Schieberegler auf diesem und den weiteren Bildern können Sie das Henstedt-Ulzburg von früher und heute vergleichen. Verschieben Sie den Regler einfach mit der Maus oder dem Finger auf Smartphone und Tablet.)
Henstedt-Ulzburger gegen den Stadttitel
Einer, der 2013 auf dem Stimmzettel mit voller Überzeugung das 'Nein’ angekreuzt hatte, ist Johann Schümann. "Gott sei dank ist der Bürgerentscheid positiv ausgegangen", sagt der 79-Jährige, "also positiv für mich - weil ich nie 'Stadt’ werden wollte." Es sei ein Alleinstellungsmerkmal des Ortes, das findet er gut. Er mag das Dörfliche, findet es schön, dass sich die Ortsteile so sehr voneinander unterscheiden - während Henstedt "rundgewachsen" ist um den Wöddel, ist Ulzburg seit seiner langjährigen Funktion als Zollstelle im ersten Jahrtausend immer ein Straßendorf gewesen. Götzberg bliebe sich als kleines Bauerndorf bis heute treu, meint Schümann. "Wir sind einfach eine Gemeinde und keine Stadt", sagt er und zuckt mit den Achseln, als gäbe es daran nichts zu rütteln.
Ulzburg war seit dem Mittelalter eine Zollstelle auf der Heeresstraße von Dänemark in Richtung Süden. Viele Handelsleute bevorzugten sie im Gegensatz zur Zollstelle in Wedel, da sie geringere Abgaben forderte.
Reform: Größere Verwaltungseinheiten entstehen
Bei der Gemeindereform ging es darum, größere Verwaltungseinheiten zu bilden. Archivar Zelck sagt, damit habe sich die Region auch dagegen stellen wollen, "dass sich Hamburg ausbreitet wie ein Pfannkuchen in der Pfanne und alles drumherum schluckt." Johann Schümann war damals Vorsitzender der Bürgervertretung und stellvertretender Bürgervorsteher. "Früher gab es ja noch zwischen Henstedt und Ulzburg Zoff, wie das in vielen Gemeinden war", erinnert er sich. Wer bisher - mindestens auf dem Sportplatz - gegeneinander wetteiferte, sollte jetzt zusammenwachsen? Damals schwer vorstellbar für viele Einwohner, auch die eigenen Sportvereine bleiben so vorerst bestehen. Teilweise würde man das heute auch noch haben, dass man sich nur seinem Ortsteil zugehörig fühlt, erzählen manche Henstedt-Ulzburger - einerseits aus Überzeugung, andererseits, weil der Alltag und das persönliche Umfeld einen gar nicht erst in die anderen Ortsteile führt. Schümann hat aber nie ein Gegeneinander empfunden. "Ich bin überzeugter Henstedt-Ulzburger, auch wenn ich in Henstedt lebe und dort großgeworden bin."
Der Dorfteich Wöddel ist das Zentrum Henstedts. Der Ort war damals entstanden, als sich mehr als ein Dutzend Bauernhöfe drumherum ansiedelten. Die sogenannten Hufner, also die damaligen Großbauern, bildeten den Rat des Dorfes und trafen Entscheidungen.
Die Hamburger kommen
Es geht um Identität in Henstedt-Ulzburg. Und neben dem Zusammenschluss zur Großgemeinde übt auch die Nähe zu Hamburg einen großen Einfluss darauf aus: Denn während der Wohnraum in den 60er Jahren in der Hansestadt immer weniger und teurer wird, schwärmen die Menschen ins Umland - in den sogenannten Hamburger Speckgürtel. Innerhalb kürzester Zeit entstehen Hochbauten, die AKN-Routen werden zu den wichtigsten Pendlerverbindungen, kurzzeitig soll sogar der Hamburger Flughafen in die unmittelbare Nähe ziehen. Henstedt-Ulzburg wird die am schnellsten wachsende Gemeinde in Schleswig-Holstein. Während sie 1970 noch etwa 9.500 Bewohner zählte, sind es jetzt mehr als 10.000 mehr. So, erzählt Archivar Zelck, siedeln sich in den 60ern und 70ern vor allem junge Familien in der Großgemeinde an, die ihre Arbeit, ihre Freunde und ihre Familie noch in Hamburg haben - und sie auch behalten. Lange bleibt eine starke emotionale und berufliche Bindung zur Großstadt bestehen.
Das Gasthaus Scheelke beherbergte Anfang des 20. Jahrhunderts die Arbeiter, die die Bahnstrecke Elmshorn-Bad Oldesloe bauten. Später war es das Gebäude mit einer der ersten Kegelbahnen im gesamten Kreis.
Oft sind die Erwartungen der Zugezogenen zu groß
Der Soziologe Marcus Menzel hat zu dem Thema ein Buch herausgegeben: "Leben in Suburbia" - ein Werk, in dem er unter anderem die Bewohner Henstedt-Ulzburgs betrachtet. So wird stellvertretend für ein prägendes Lebensgefühl ein Herr Müller zitiert: "Henstedt-Ulzburg ist ein Ort, in dem man gut wohnen kann, der allerdings ein geringes Prestige besitzt. Also, das kann man eigentlich niemandem erzählen, dass man in Henstedt-Ulzburg wohnt", lautet die nüchterne Einschätzung des Architekten, der - wie Menzel erläutert - stark an die anliegende Hansestadt orientiert ist. "Für einen Hamburger ist das völlig indiskutabel. Das ist mega-out." Ein hartes Urteil, das Müller trifft. Es wird dem Ort nur bedingt gerecht, und zwar, wenn man zu viel erwartet. Der Ort ist in kurzer Zeit enorm gewachsen, hatte keine Möglichkeit, sich über Jahrzehnte gemächlich zu formen. Doch es gibt auch viele Gegengewichte zu Architekt Müller - zum Beispiel die Kruses, die gerne zu Henstedt-Ulzburgern wurden.
Der kleinste Teil Henstedt-Ulzburgs ist Götzberg: Ursprünglich als Bauerndorf gegründet, hat es noch heute eine ähnliche Struktur und soll sie auch beibehalten. Dort leben heute noch nur ein paar Hundert Menschen.
Mit eigener Muskelkraft das Haus gebaut
Dass es Günther Kruse und seine Frau Annegret Anfang der 70er nach Henstedt-Ulzburg zieht, geschieht durch eine Anzeige in einer Hamburger Tageszeitung. "Es sollte eine Wiese in Henstedt erschlossen werden", erinnert sich Kruse, der als Verwaltungsangestellter in der Hansestadt arbeitet. "Damals gab es in Hamburg eine Wohnraumknappheit, genau wie heute." Schon früh fühlen sie sich in Henstedt-Ulzburg wohl. "Es gab damals eine ganz starke Gemeinschaft. Brauchte man eine Schraube, hatte sie der Nachbar - oder Paul Giese." Giese war einer der kleinen Läden um den Wöddel, die es damals gab, bevor die großen Filialisten die kleinen Einzelhändler vertrieben. Bei Giese, beim Bäcker, beim Milchmann traf man sich, tauschte sich aus, lebte die Gesellschaft.
Viel Geld zum Bauen hatte das junge Ehepaar nicht - so wie viele zu der Zeit. Alles machen die Kruses mit Hilfe von Bekannten selbst, die Handwerker kommen nur für den Dachstuhl auf die Baustelle. "Da galt es mit der Muskelhypothek zu arbeiten", witzelt Kruse und lacht. Dem Eifer folgt Erfolg: Nach nur anderthalb Jahren - und unzähligen Arbeitsstunden - können sie in ihr Haus einziehen. "Wir haben in die Hände gespuckt und haben hier auf der Baustelle gestanden, als andere zum Baden fahren gefahren sind." So bauen viele, verzichten jahrelang auf Urlaub. Die Arbeit und Zeit, die die Kruses damals investiert haben, haben sich für sie aber gelohnt: In ihrem eigenhändig gebauten Zuhause fühlen sie sich immer noch wohl - auch noch nach 45 Jahren.