Experte zu Radikalisierung: Es beginnt mit unerfüllten Bedürfnissen
Sie sind meist jung und männlich - Menschen, die Anschläge planen oder sogar durchführen. Ein 17 Jahre junger Mann aus Elmshorn sitzt zurzeit in U-Haft, weil er einen Terroranschlag geplant haben soll. Wieso radikalisieren sich junge Menschen wie er?
Jannis Jost, Leiter der Abteilung für Terrorismus- und Radikalisierungsforschung am Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel (ISPK), forscht dazu, wie sich Menschen wie der 17-jährige Tatverdächtige aus Elmshorn radikalisieren. Im Interview mit NDR Schleswig-Holstein erzählt er unter anderem, dass die Verdächtigen immer jünger werden und sich zunehmend über das Internet zusammenschließen.
NDR Schleswig-Holstein: Ganz grundsätzlich: Warum radikalisieren sich Menschen?
Jannis Jost: Radikalisierung fängt immer mit unerfüllten oder schlecht erfüllten Bedürfnissen an. Da gibt es zum Beispiel das Bedürfnis nach Selbstwert und die Frage: Wie kann ich mir Selbstwert schaffen? Ein klassischer Weg, Selbstwert zu erlangen, ist es, einen guten Job zu haben und diesen Job gut zu machen. Wenn es keine guten Jobs gibt, wenn man nicht arbeiten darf, wenn man nicht die guten Stellen bekommt, dann kann das für den Selbstwert abträglich sein. Man muss dann gucken, andere Quellen für den Selbstwert finden. Und dann kann es passieren, dass man einen antisozialen Weg einschlägt und zum Beispiel bei einer extremistischen Ideologie landet.
An welchen Orten radikalisieren sich die Menschen?
Jost: Jede Radikalisierung passiert letztendlich im Kopf der betroffenen Person. Der persönliche Kontakt zu Gleichgesinnten ist sehr wichtig. Das kann zum Beispiel in Jugendzentren passieren. Früher waren Moscheegemeinden sehr relevant in dem Kontext, jetzt sind sie es kaum noch. Aber auch im Internet und sozialen Medien finden wir da viele Einstiegspunkte. Es kann reichen, nach ganz unverfänglichen Alltagsfragen zu googeln, um zum Beispiel auf YouTube oder auf Instagram auf Content zu kommen, der in eine problematische Richtung führt. Man war lange der Meinung: An irgendeiner Stelle muss ein echter Kontakt im realen Leben kommen, damit diese Dynamiken sich entfalten können. Aber in letzter Zeit gibt es immer mehr Personen, die die Kontakte komplett online über Chatgruppen, über Messengerdienste haben, und die die Menschen, mit denen sie sich radikalisieren, mit denen sie Straftaten planen, nie real gesehen haben.
Wie alt sind die Menschen, die sich radikalisieren, im Schnitt?
Jost: Nachdem wir lange Zeit viele Verdächtige hatten, die Anfang, Mitte 20 waren, sehen wir gerade in jüngster Zeit sehr viele sehr junge Täter. Da sind die 17 Jahre, die uns vom Verdächtigen in Elmshorn bekannt sind, noch vergleichsweise gesetzt. Es gibt inzwischen häufig 14-Jährige, 15-Jährige - also wirklich junge Verdächtige.
Warum sind es eher Männer, die sich radikalisieren?
Jost: Sowohl der Rechtsextremismus als auch der Islamismus vertreten ein nicht gerade proaktives Frauenbild. Da finden Frauen nicht so viele Angebote. Gleichzeitig werden bestimmte Bilder konstruiert, die Männer eher ansprechen als Frauen - gerade junge Männer, die gerade erst ihr Männlichkeitsbild konstruieren. Das sind Bilder wie: der Krieger, der Beschützer der Gemeinschaft, der Rächer.
Welche extremistischen Richtungen haben aktuell den meisten Zulauf?
Jost: Nach wie vor sind das der Rechtsextremismus und Islamismus, beziehungsweise Salafismus. Außerdem sind in letzter Zeit Gedankengebäude dazugekommen, die an Rechtsextremismus angrenzen, aber nicht ganz identisch sind. Das sind Richtungen, die den Staat delegitimieren, die regierungsfeindlich sind. Da sind einige der rechtsextremen Elemente vorhanden, aber andere fehlen. Und: Nach einigen Jahren, wo Rechtsextremismus ganz klar die gefährlichste und prävalenteste Ideologie war, sehen wir bei den Terrorverdächtigen in letzter Zeit doch wieder einen erkennbaren Anstieg unter islamistisch motivierten Tätern.
Wann spricht man von Radikalisierung?
Jost: Rein vom Wortsinn heißt "Radikalisierung" nicht mehr, als über eine Zeit eine zunehmend radikale Position zu vertreten. Wenn man in unserer Gesellschaft eine zunehmend radikale Position vertritt, heißt das aber auch, dass man sich fast notwendigerweise vom politischen System und von der Mehrheit der Gesellschaft distanziert. Radikalisierung bezeichnet also diesen Prozess, sich zunehmend extreme, radikale Meinungen anzueignen und sich zunehmend aus der Gesellschaft zurückzuziehen. Der springende Punkt ist eine zunehmende Feindschaft und einen zunehmenden Abstand zur Gesellschaft zu entwickeln. Die Effekte sind also Isolierung und Übersteigerung der verbleibenden Bezugsgruppe.
Gibt es Warnsignale, die zeigen, wenn sich ein Mensch aus der eigenen Umgebung radikalisiert?
Jost: Man muss sagen: In der Pubertät gibt es auch ganz normale Veränderungsprozesse. Wenn man mit einem Hobby aufhört oder man sich aus einer Freundesgruppe zurückzieht, dann kann das in dem Alter ganz natürlich sein. Aber worauf man achten muss, ist die fundamentale Feindschaft zur Gesellschaft. Und worauf man außerdem achten muss, ist eine sogenannte identitäre Fixierung. Das bedeutet, dass die gesamte Identität nur noch an einem Punkt, nämlich der extremistischen Ideologie, hängt. Im Gegensatz dazu ist die normale Identität relativ weit aufgegliedert: Ich bin Arbeitnehmer, ich bin auch Freund, ich bin Staatsbürger mit einer politischen Meinung, ich engagiere mich ehrenamtlich. In allen diesen Kontexten gelten unterschiedliche Wertesysteme. (...) Genau das fehlt bei der radikalisierten Person. Die Antwort auf die Frage: "Warum bist du ein guter Vater?" ist dann plötzlich: "Ich erziehe ein gutes, muslimisches Kind." Die Antwort auf die Frage: "Was macht dich zu einem guten Ehemann?" ist: "Meine Ehe ist islamkonform." Die Antwort auf die Frage: "Was macht dich zu einem guten Freund?" ist: "Mein Freundeskreis ist islamkonform." Das heißt: Alle Aspekte werden nur an einer Ideologie aufgehängt. Das ist ein Warnsignal.
Was kann man tun, wenn man so etwas bei einem Menschen aus dem eigenen Umfeld beobachtet?
Jost: Es kann nie schaden, erstmal das Gespräch zu suchen - wenn man sich dem gewachsen fühlt. Dabei ist es wichtig, nicht mit der Absicht reinzugehen, eine Verhaltensänderung zu erreichen. Man sollte einfach Interesse zeigen. Wenn man sich aber nicht gut damit fühlt, das Gespräch fortzusetzen oder wenn man Anhaltspunkte dafür findet, dass eine Gesinnung vorliegt, die gefährlich werden könnte, dann gibt es Hilfsangebote. Hier in Schleswig-Holstein macht das beispielsweise Provention. Die sind in der Radikalisierungsprävention tätig.
Herr Jost, vielen Dank für das Interview.
Das Interview führte Anne Passow, NDR Schleswig-Holstein