Einsame Flucht aus der Ukraine: Eine Schülerin erzählt
Flucht, Angst und Hoffnung - wichtige Themen bei einem Schülerzeitungsprojekt, das sich mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt. Jugend-Redakteure aus ganz Schleswig-Holstein und Deutschland schreiben für die "Ukraine Bulletin", um unter anderem so mehr Verständnis für Menschen aus der Ukraine und ihre Situation zu schaffen.
Der 18-jährige Kilian Wolter ist Schüler am Lessing-Gymnasium in Norderstedt. Für Schülerzeitung seines Gymnasiums, "Freigeist LGN", und den "Ukraine Bulletin" hat er mit der Ukrainerin Katya Kramarchuk gesprochen. Die heute 17-Jährige kam im März 2022 allein nach Deutschland. In ihrer Heimat hatte sie schon ihren Schulabschluss gemacht - im Mathe- und Physik-Profil. In Deutschland besucht sie ein Gymnasium und studiert zusätzlich an einer ukrainischen Universität.
Du bist alleine nach Deutschland gekommen. Magst du erzählen, warum das so ist und wie du hergekommen bist?
Katya Kramarchuk: In der Ukraine wohnte ich in Saporischschja. Meine Eltern sind beide Juristen und sie dürfen daher das Land nicht verlassen. Deswegen bin ich hier alleine. Aber ich habe hier Verwandte, die sich um mich kümmern. In der Ukraine bin ich zuerst mit dem Zug bis nach Polen gefahren. Dann bin ich durch Polen bis nach Berlin gefahren, auch mit dem Zug. Dann bin ich durch Deutschland mit einem Bus gefahren. Meine Verwandten haben mich vom Bus abgeholt.
Wie lebst du jetzt hier? Wie kann man sich das vorstellen?
Kramarchuk: Ich wohne hier in einem Hotel, da wohnen auch viele andere ukrainische Leute, die geflüchtet sind. Ich weiß noch nicht, wie es weitergeht. Vielleicht bleibe ich für eine Zeit hier. Jetzt wohne ich hier, habe ein ganz normales Leben, besuche wieder die Schule.
Wie funktioniert das jetzt mit Geld, wenn du da lebst?
Kramarchuk: Ich kriege die Hilfen vom Staat, aber ich bin ja Minderjährige und ohne Eltern hier. Dadurch ist das ein bisschen schwieriger mit der Arbeit und so weiter. Ich kann zum Beispiel nicht einfach ein Konto bei der Bank eröffnen und deswegen ist es sehr kompliziert mit dem Geld.
Warum genau darfst du kein Bankkonto eröffnen?
Kramarchuk: In Deutschland gibt es das Gesetz, dass man beide Elternteile braucht, um ein Konto zu eröffnen. Für einige Menschen aus der Ukraine ist es möglich, mit nur einem Elternteil das Konto zu eröffnen. Aber ich bin hier ganz allein und meine Tante darf das nicht für meine Eltern unterschreiben. Wir haben es schon bei zwei Banken versucht, aber das hat leider nicht geklappt. Meine Eltern könnten theoretisch eine Vollmacht für meine Tante schreiben, aber sie müssten dafür hier vor Ort bei der Bank unterschreiben, so sagt es das Gesetz, wie ich es verstanden habe.
Okay. Und wenn du an den Alltag in der Ukraine denkst, gibt es da Unterschiede zum Alltag in Deutschland?
Kramarchuk: Deutschland ist ein ganz anderes Land für mich. Ich habe natürlich nicht so viele Freunde hier, wie ich sie in der Ukraine hatte. Außerdem kenne ich Deutschland nicht, das ist aber genauso ein Nachteil und ein Vorteil für mich. Denn es ist ganz spannend, neue Orte kennenzulernen und in der Ukraine konnte man zum Beispiel nicht so viel mit dem Fahrrad fahren. Wir hatten leider wenige Möglichkeiten dafür. Andererseits ist vieles auch komplizierter. Es ist alles neu, du musst so viel Neues lernen und auch die Gesetze sind ein bisschen anders. Diese ganze Bürokratie ist ein bisschen schwierig, allein, ohne Eltern. Und ich muss neue Leute kennenlernen. Die Kommunikation ist auch ein wenig komplizierter wegen der anderen Sprache.
Du sprichst ja jetzt eine komplett andere Sprache im Alltag und auch in der Schule. Wie ist das für dich?
Kramarchuk: Das ist echt nicht leicht. Ich versuche, alles Mögliche zu verstehen und ich wiederhole zuhause das, was ich verstanden habe nochmal. Ich schreibe Wörter, die neu für mich sind, auf und lerne sie. Das funktioniert eigentlich ganz gut. Aber es ist trotzdem sehr schwer. Ich muss manchmal nachfragen, was etwas bedeutet und die Leute sprechen immer sehr schnell, dadurch verstehst du nicht immer, was der andere meint. Und du kannst nicht immer deine Gedanken deutlich äußern. Manchmal fehlt dann so eine bestimmte Vokabel und dann braucht man immer mehr Zeit, um etwas Bestimmtes zu sagen.
In der Ukraine bist du ja vorher noch zur Schule gegangen. Wie ist das jetzt hier?
Kramarchuk: Ich habe E-Mails an Schulen geschickt und meine Situation erklärt. Die eine Schule hat dann ein Gespräch für mich organisiert und ich habe einen Schnuppertag gemacht. Seit diesem Schuljahr gehe ich jetzt hier zur Schule. Ich habe die Fächer, die ich auch in der Ukraine hatte, im Unterricht, aber teilweise auch neue Fächer. Zum Beispiel Wirtschaft/Politik und Philosophie, das hatten wir gar nicht an unserer Schule in der Ukraine. Der Lehrplan ist auch ein bisschen anders. In Mathematik habe ich beispielsweise andere Themen gelernt und einige Themen, die es hier jetzt gibt, hatte ich aber auch noch nicht gelernt.
Du meintest vorhin, du studierst noch nebenbei? Wie schaffst du es, Schule und Studium unter einen Hut zu bekommen?
Kramarchuk: Also nach der Schule besuche ich halt die Vorlesungen, die ich noch besuchen kann. Wir haben alle Vorlesungen momentan online. Ich gehe ja an eine ukrainische Uni, das ist sehr gut für mich. Ich mache meine Hausaufgaben dann teilweise auch in der Zeit, wo ich auch mit der Uni beschäftigt bin. Aber ehrlich gesagt, es ist echt kompliziert, beides zu machen und deshalb mache ich auch nicht immer alles für die Schule (lacht). Jetzt gerade ist zum Beispiel auch die Klausurphase und das ist echt anstrengend.
Wie denkst du über die Wahrnehmung von Menschen in Deutschland über den Krieg? Wenn Leute dich auf die Situation in der Ukraine ansprechen oder man die Nachrichten guckt, wie empfindest du das? Nervt so was manchmal?
Kramarchuk: Das ist schwer zu sagen. Viele Leute haben sehr unterschiedliche Meinungen. Ich habe schon viele Leute getroffen, die nicht so einverstanden waren mit meiner Meinung. Aber trotzdem, der Großteil in Deutschland hilft den Menschen aus der Ukraine, so wie sie können. Die bekannten Nachrichtensender zeigen halt so die bekannten Sachen und wir wissen bestimmt manchmal mehr, weil wir da wohnen. Aber insgesamt finde ich, dass in Deutschland sehr gut über das Geschehen in der Ukraine berichtet wird. Am Anfang, als ich hergekommen bin, kamen viele Fragen: Wie bist du hergekommen? Wie findest du Deutschland? Und wenn ich das mal nicht erzählen wollte, hab ich das auch nicht erzählt. Aber ansonsten finde ich solche Fragen ganz normal, wenn Leute wissen wollen, wie ich mich hier fühle.
Will man den Krieg auch manchmal einfach vergessen?
Kramarchuk: Nein, leider ist das nicht so. Denn du erinnerst dich immer wieder, dass in deiner Heimat gerade Krieg herrscht. Weil du dort ja auch Freunde und Familie hast. Du hast deine ganze Kindheit und Jugend, dein ganzes Leben, dort verbracht und dann verstehst du, dass das zerstört wurde. Du kannst einige Orte nicht mehr besuchen, an denen du früher gerne warst. Wenn du in einem neuen Land wohnst, hilft es, dass du nicht die ganze Zeit die ganzen schlimmen Nachrichten mitbekommst, aber das kommt alles immer mit dir. Und ich denke, das wird auch so bleiben.
Als Du hier hergekommen bist und auch wenn du jetzt hier lebst, fühlst du dich von den Menschen und von den Institutionen willkommen geheißen und angenommen?
Kramarchuk: Ich habe am Anfang bei meinen Verwandten hier gewohnt und das am Anfang nicht wirklich mitbekommen. Meine Verwandten waren auch die ersten Deutschen, die ich kennengelernt habe, und die waren echt lieb. Andere Menschen waren auch sehr freundlich und offen. Es gab auch Situationen, wo Menschen gesagt haben, es gäbe sehr viel mit Menschen aus der Ukraine zu tun, aber eigentlich sind alle ganz nett, finde ich.
Möchtest du irgendwann zurück?
Kramarchuk: Ich will auf jeden Fall zurück in die Ukraine. Aber ich weiß nicht, vielleicht werde ich noch hier studieren. Ich kann mir auch vorstellen, dass ich hier dann eine längere Zeit bleibe. Aber natürlich möchte ich meine Eltern besuchen. Ich kenne auch Menschen, die schon jetzt in die Ukraine zurück wollen. Und ich kann sagen, das wollen sehr viele.
Tut Deutschland genug? Was hältst du zum Beispiel davon, dass Deutschland Waffen in die Ukraine liefert, dazu gibt es ja sehr verschiedene Meinungen?
Kramarchuk: Also ich finde das gut. Denn ich weiß, wie es war, als es nicht genug Waffen gab. Mein Vater zum Beispiel wollte mitgehen (in eine Militäreinheit, Anm. d. "Ukrainie Bulletin") und konnte das nicht, weil es nicht genug Kleidung und Waffen gab. Und die Ukrainer brauchen Waffen, um sich beschützen zu können. Hier macht Deutschland sehr viel für ukrainische Menschen. Also ich wohne ja mit sehr vielen anderen ukrainischen Menschen zusammen und wir bekommen genug Hilfe.
Gibt es trotzdem irgendwas, wo Du sagen würdest, dass es sich unbedingt ändern müsste an der Hilfe in Deutschland?
Kramarchuk: Also es ist sehr anstrengend mit dieser Bürokratie. Es ändert sich immer alles. Es ist bei vielen ukrainischen Menschen immer wieder anders, dieses System, was sie machen sollen. Einige kriegen auch ihre Dokumente erst nach einem halben Jahr, andere kriegen sie sofort. Manchmal müssen sie einige Formulare ausfüllen und bei anderen läuft es ganz anders. Das ist immer verwirrend. Denn wir fragen dann andere, wie es bei ihnen war und wissen dann gar nicht, was wir jetzt machen sollen, und manche haben keine Deutschkenntnisse, um richtig nachfragen und verstehen zu können. Ich hatte Deutschkenntnisse, aber auch nicht so gute. Aber mit meinen Verwandten konnte ich verstehen, was ich zum Leben hier brauchte.
Zum Abschluss: Wenn du einen Wunsch frei hättest, was sofort passieren sollte, was wäre das?
Kramarchuk: Natürlich das Ende des Krieges.
Das Interview führte Kilian Wolter, Schüler am Lessing-Gymnasium Norderstedt, für die Schülerzeitungen "Freigeist LGN" und den "Ukraine Bulletin". Das Interview ist von NDR Schleswig-Holstein mit dem Einverständnis aller Beteiligten und deren Erziehungsberechtigten veröffentlicht worden.