Der Todesmarsch an der Westküste

Stand: 12.04.2023 05:00 Uhr

Kurz vor Kriegsende räumten die Nationalsozialisten die Konzentrationslager. Häftlinge aus Thüringen wurden in Viehwaggons über die Westküste nach Bergen-Belsen gebracht. Schülerinnen und Schüler aus Glückstadt machen daraus ein Foto-Projekt.

von Jonas Salto

Der ehemalige Bahnhof "Brunsbüttel Koog" ist heute eingezäunt. Die Gleise sind von der Straße aus nicht zu sehen. Die Schülerinnen und Schüler der 11g des Detlefsengymnasiums Glückstadt (Kreis Steinburg) stehen vor dem abgesperrten Bereich. Dahinter hat am 6. April 1945 ein Zug mit etlichen Viehwaggons Halt gemacht. In den Waggons: mehr als 1.600 KZ-Häftlinge. Wo kam dieser Zug her und warum hielt er in Brunsbüttel (Kreis Dithmarschen) an?

Im April '45 rückten die Alliierten immer näher. Die Nationalsozialisten räumten daraufhin immer mehr ihrer Konzentrationslager. Sie wollten ihre Gräueltaten verschleiern. So auch am 4. April 1945: Die Faschisten räumten das Konzentrationsaußenlager Woffleben (Thüringen). Der Transport der Häftlinge in Viehwaggons setzte sich in Bewegung. In einen Waggon passten eigentlich 20 Menschen. Doch in diesem Zug waren es pro Viehwaggon etwa 100. Ein Großteil der Juden überlebte die Reise entlang der Westküste Schleswig-Holsteins bis nach Bergen-Belsen (Niedersachsen) nicht.

Elftklässler wollen Todesmarsch wieder sichtbar machen

Anne Wolter der 11g des Dethlefengymnasiums Glückstadt fotografiert © NDR
Schülerin Anne Wolter fotografiert am ehemaligen Bahnhof in Brunsbüttel.

Der Räumungszug begab sich auf eine Irrfahrt, Hauptsache weg von den Alliierten. Er fuhr über Hannover, Lüneburg, Hamburg bis nach St. Michaelisdonn und Brunsbüttel, damals noch Brunsbüttel Koog. Die Schülerinnen und Schüler stehen heute, 78 Jahre später, am ehemaligen Bahnhof in Brunsbüttel. Dort ist noch das Schild mit der Aufschrift "Brunsbüttel Koog" zu sehen. Aber an den NS-Todeszug erinnert hier gar nichts mehr. "Wir fotografieren verschiedene Motive, die wir in den Kontext mit dem Todesmarsch bringen können", sagt die 17-jährige Anne Wolter vor dem ehemaligen Bahnhofsgebäude. Sie hat das Geschichtsprofil gewählt. In diesem Schuljahr beschäftigt sie sich mit ihrer Klasse im Rahmen eines Projektes mit dem sogenannten Todesmarsch aus Thüringen nach Schleswig-Holstein. Bisher sei kaum dazu geforscht worden, sagt ihr Lehrer Jens Binckebanck. Das habe das Projekt noch einmal besonders interessant gemacht.

Geheimes Tagebuch und Aussagen von Zeitzeugen zur Recherche

Um dem Thema näherzukommen, beschäftigten sie sich mit dem Tagebuch von Emile Delaunois. Der Belgier war Gefangener im KZ-Außenlager Woffleben und wurde auch in den Räumungstransport gepfercht. Da, wo die Schülerinnen und Schüler heute in Brunsbüttel stehen, machte auch er gezwungenermaßen Halt. Die Nazis sperrten ihn ein, weil er für den belgischen Widerstand aktiv war. Heimlich schrieb er Tagebuch. Ein Eintrag vom 4. April '45: "Zugegeben: Ich bin hektisch und nervös. Denn man spricht von unserer Abreise aus dem Lager. Und wir würden es bei Weitem vorziehen, hier befreit zu werden, wo es Nahrung und Transportmittel gibt." Emile Delaunois überlebte die Fahrt, landete dann im KZ Bergen-Belsen, wo ihn die Briten am 15. April 1945 befreiten. Doch bei seiner Heimreise im Juni erlag er den Folgen der Haft.

Das Kommando über den Todeszug aus Woffleben hatte der SS-Oberscharführer Hermann Kleemann. Er wurde 1915 geboren in St. Michaelisdonn, machte später eine Ausbildung zum Metzger. Als die Schülerin Anne Wolter am Bahngleich in St. Michaelisdonn steht, sagt sie: "Hermann Kleemann war einer der schrecklichsten Wachmänner. Das haben wir auch in einigen Zeugenaussagen gelesen. Die Brutalität war stark ausgeprägt und er hat häufig Juden per Kopfschuss hingerichtet." 1951 stand Kleemann unter Anklage vor dem Landgericht Itzehoe wegen Tötungen auf dem Räumungstransport. Das Verfahren wurde aus Mangel an Beweisen eingestellt. Auch wegen der von ihm begangenen Verbrechen in Auschwitz wurde ermittelt. Zu einem Prozess kam es aber nicht. Der SS-Oberscharführer starb nämlich 1977.

Schulprojekt soll in Buch enden

Altes Schild "Brunsbüttelkoog-Nord" und Fingerabdruck als Doppelbelichtung © Anne Wolter Foto: Anne Wolter
Fertiges Foto: Anne Wolter legt mit Doppelbelichtung ihren Fingerabdruck über das altes Bahnhofsschild in Brunsbüttel.

Die Schülerinnen und Schüler wollen mit Fotografien auf den damaligen Todesmarsch aufmerksam machen. Als Anne Wolter in St. Michaelisdonn vor einem eingeglasten Fahrplan steht, kommt ihr eine weitere Foto-Idee: "Wir wollen einen Fingerabdruck auf das Glas machen und dann den Fingerabdruck fotografieren und nachher auf das Bahnhofsgebäude legen. Mit Doppelbelichtung." Die Bilder bearbeitet die Klasse 11g am Ende auf ihren iPads und Laptops, mit einer kostenlosen Foto-App. "Ich finde, das ist echt eine schöne Abwechslung, weil man sich einfach auf eine andere Art und Weise mit den ganzen Themen auseinandersetzt", erzählt die 17-jährige Anne Wolter.

Die Zwischenergebnisse des Projektes stellen die Schülerinnen und Schüler am 16. Mai im Detlefsengymnasium in Glückstadt vor. Die Veranstaltung ist öffentlich. Am Ende sollen Zeugenaussagen, Tagebucheinträge und die Fotografien von Anne Wolter und ihren Mitschülerinnen und Mitschülern in einem Buch erscheinen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Schleswig-Holstein Magazin | 11.04.2023 | 19:30 Uhr

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