Bundestagswahl 1972: Als fast alle zur Wahl gingen
Eine Wahlbeteiligung wie damals hat es nie weder gegeben: mehr als 91 Prozent. Auch in Schleswig-Holstein war die Bundestagswahl am 19. November 1972 für viele Menschen der Anfang ihres politischen Engagements.
1972 war Wahlkampf überall: Infostände auf den Straßen, Politiker-Auftritte in überfüllten Hallen, Partei-Anstecker an den Jackenaufschlägen. "Man konnte dem damals gar nicht entgehen", erzählt Jan Ingwersen aus Travemünde bei einem Besuch im Lübecker Willy-Brandt-Haus. Ingwersen war damals noch Schüler - aber schon 18 und damit erstmals wahlberechtigt, seit die sozialliberale Regierung aus SPD und FDP das Wahlalter herabgesetzt hatte. "Natürlich durfte in der Schule kein Wahlkampf gemacht werden", sagt Ingwersen heute, "aber wir haben untereinander darüber geredet, das war gar nicht zu vermeiden."
Erste Bundestagswahl außer der Reihe
Es war die erste vorgezogene Bundestagswahl überhaupt. Die Koalition aus SPD und FDP hatte ihre Mehrheit im Bundestag verloren, weil mehrere Abgeordnete zur Union gewechselt waren. Hintergrund war der Streit um die Ostpolitik der Regierung, die von Bundeskanzler Willy Brandt betriebene so genannte Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion, der DDR und Polen. Vor allem die CDU/CSU kritisierte das. Franz-Josef Strauß sagte im Bundestag, mit den Ostverträgen werde die Herrschaft der Sowjetunion über Osteuropa gefestigt. Im Frühjahr 1972 hatte die Union durch die zu ihr übergetretenen Abgeordneten eigentlich eine Mehrheit. Mit einem konstruktiven Misstrauensvotum versuchte sie, Kanzler Brandt zu stürzen und Oppositionsführer Rainer Barzel zu dessen Nachfolger zu machen. Aber das scheiterte, Barzel fehlten bei der Abstimmung wenige Stimmen - auch zur Überraschung des knapp geretteten Kanzlers.
SPD-Kampagne macht Kanzler Willy Brandt zur Kultfigur
"Als dann Barzel gescheitert war, da bin ich wenige Tage danach auf die Geschäftsstelle der SPD gegangen und in die Partei eingetreten", erzählt Conja Grau. Mit damals 17 Jahren ist die Lübeckerin zum Wählen noch zu jung, aber "ich konnte mich ja auf andere Weise nützlich machen." Und freiwillige Wahlkampfhelfer können im Herbst 1972 alle Parteien gut gebrauchen. Union und Sozialdemokraten treiben enormen Aufwand. Vor allem die SPD mit ihren damals noch rund 900.000 Mitgliedern setzt auf eine moderne, amerikanisch anmutende Kampagne mit Aufklebern und den "Willy wählen"-Buttons, kleinen Plastik-Ansteckern, die den Kanzler zur Kultfigur machen.
SPD knapp vor der Union - die FDP macht den Unterschied
Zum Wahlkampf-Start liegt die SPD in den Umfragen zurück. Am Ende kommt sie dann doch auf 45,8 Prozent für die SPD. Der Vorsprung ist knapp, die Union verliert nur leicht, holt 44,9 Prozent. "Diese Polarisierung ergibt sich nicht unbedingt so sehr dadurch, dass man die CDU oder die SPD wählt, sondern durch die Vorstellung von Gesellschaft, durch die Vorstellung von Zukunft und von Modernität", sagt die Historikerin und Politikwissenschaftlerin Dr. Bettina Greiner, Leiterin des Lübecker Willy-Brandt-Hauses: "Und da war Willy Brandt eine ganz besondere Persönlichkeit, die dieses Versprechen viel, viel besser artikulieren konnte."
Selbst in Schleswig-Holstein holt die SPD bei der Bundestagswahl 1972 fast 49 Prozent der Zweitstimmen - obwohl das Land damals tiefschwarz ist und CDU-Ministerpräsident Stoltenberg mit absoluter Mehrheit regiert. Im Bund kann die SPD zusammen mit der FDP weiterregieren, rund zehn Jahre noch.
Gesellschaft war 1972 enorm politisiert
Der Kanzler, die Person Brandt, machte also 1972 für viele Wähler den Unterschied, vor allem in der damals jungen Generation. Auch für Charlotte Kerner, damals 21 und Erstwählerin. "Das war eine enorm politisierte Zeit damals, die Demonstrationen, der Vietnamkrieg, die Debatte um den Paragrafen 218. Natürlich war mir Brandt viel lieber als Barzel", sagt die heutige Autorin. Aber damals entscheidet sie sich anders, wählt bewusst ungültig: "Ja, ich habe was draufgeschrieben: 'Weg mit dem KPD-Verbot', weil ich es nicht richtig fand, dass die SPD Berufsverbote gemacht hat. Weil ich es wichtig gefunden hätte, dass es eine linkere Alternative gibt."
Bundestagswahl 1972, mehr als 90 Prozent Wahlbeteiligung und ein übersichtlicher Bundestag mit zwei großen Parteien und der FDP als Zünglein an der Waage, das ist 50 Jahre später kaum noch vorstellbar. Aber für diejenigen, die damals angefangen haben, sich mit Politik zu beschäftigen, ist die Zeit vor 50 Jahren noch präsent. Charlotte Kerner sagt: "Also, ich fand es eine tolle Zeit, und ich hatte das Gefühl, ich muss mich einmischen und die Welt verändern. Und habe mir das auch zugetraut." Sie traut es sich bis heute zu. Wahlen können den Unterschied machen.