Atommüll in SH: Problemfall Zwischenlager
Bis zu 100 Jahre dauert es wohl noch, bis es ein Endlager für den hochradioaktiven Abfall deutscher Kernkraftwerke gibt. So lange bleibt er in den Zwischenlagern. Die Gemeinden fordern dafür jetzt hohe Ausgleichszahlungen.
Wäre da nicht dieses Hinweisschild - man würde am Kernkraftwerk Brunsbüttel (Kreis Dithmarschen) einfach vorbeifahren. Kein hoher Kühlturm wie beim Kernkraftwerk Isar in Bayern ragt hier in den Himmel und auch keine so markante Reaktorkuppel wie beim AKW im nahen Brokdorf (Kreis Steinburg). Nur ein schwarzer Kasten steht da.
Atomares Erbe: Tausende Tonnen schwer
Am Verschwinden des Kraftwerks arbeitet der Betreiber Vattenfall seit 2019. An wenigen Orten lässt sich zeigen, wie wortwörtlich schwer das atomare Erbe ist: Hunderte See- und Schuttcontainer reihen und stapeln sich auf dem Gelände. Gefüllt sind sie mit eigentlich harmlosem, nicht radioaktivem Müll, den trotzdem keine Deponie bei sich haben will.
Doch selbst wenn der Müll irgendwann abgefahren ist, wird die Ära der Kernenergie in Brunsbüttel noch lange nicht vorbei sein: Es bleiben zwei riesige Zwischenlager - das eine etwa für verseuchte Bauteile vor allem aus dem Reaktorgebäude, das andere für die alten Brennelemente. 965 Stück in 20 Castoren, insgesamt 161 Tonnen hochradioaktives Material.
Entscheidung für Endlagerstandort zwischen 2046 und 2068
Während es für die schwach- und mittelradioaktiven Bauteile mit dem Schacht Konrad in Salzgitter zumindest schon ein Endlager gibt, steht ein Endlager für den hochradioaktiven Atommüll komplett in den Sternen. Eine Entscheidung darüber, wo es gebaut wird, erwartet die Bundesgesellschaft für Endlagerung frühestens 2046 und spätestens 2068. Und dann muss noch gebaut werden.
Martin Schmedtje rechnet deshalb damit, dass Brunsbüttel noch bis zu 100 Jahren mit dem nuklearen Erbe leben muss. Schmedtje (parteilos) ist Bürgermeister der Gemeinde - und fordert einen finanziellen Ausgleich in Millionenhöhe. "Es war nie die Rede davon, dass der Atommüll hier gelagert werden soll", sagt Schmedtje. "Wenn wir das gewusst hätten, wäre das Kraftwerk hier nicht hingekommen." Seine Forderung: mindestens eine Million Euro jährlich.
Standortkommunen fordern Millionen-Entschädigung
Die Forderung nach finanzieller Kompensation, sie wird derzeit nicht nur in Brunsbüttel, sondern auch in Brokdorf und Geesthacht sowie in ganz Deutschland laut. Dahinter steckt die Arbeitsgemeinschaft der Standortkommunen kerntechnischer Anlagen (ASKETA). In der haben sich alle Bürgermeister und Bürgermeisterinnen organisiert, die AKW bei sich in der Gemeinde haben - und damit auch Zwischenlager.
Tatsächlich waren die dort anfangs nicht geplant. Wie einer geschichtlichen Abhandlung des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung zeigt, existierte zu Beginn der Atomergie die Idee eines Kernbrennstoffkreislaufs: Abgebrannte Brennstäbe sollten so weit wie möglich wiederaufbereitet und der restliche Atommüll zentral in Ahaus und Gorleben zwischen- und schließlich endgelagert werden.
Zwei gebrochene Versprechen - und blockierte Flächen
Erst Anfang 2000 entschied die damalige Bundesregierung, den Atommüll dezentral an den Kernkraftwerkstandorten zu lagern. "Für maximal 40 Jahre, so hieß es damals, denn dann habe man ja ein Endlager", sagt Martin Schmedtje. Dass dem nicht so ist und die Kommunen jetzt auf dem Müll, der nie bei ihnen hätte landen sollen, sitzen bleiben - für Schmedtje zwei gebrochene Versprechen.
Neben dem Sicherheitsrisiko, mit dem seine Bevölkerung weiterhin leben müsse, stört sich der Bürgermeister daran, wertvolle Industrieflächen sehr viel länger als geplant nicht oder nur eingeschränkt nutzen zu können. Und, dass mit reinen Lagerstätten-Gemeinden wie dem nordrhein-westfälischen Ahaus und Gorleben in Niedersachsen anders umgegangen werde: "Die sind seit jeher dafür entschädigt worden", sagt Schmedtje.
BGZ bestätigt Zahlungen an "nur"-Lager-Gemeinden
Die bundeseigene Gesellschaft für Zwischenlagerung (BGZ), die die meisten Zwischenlager für hochradioaktive Abfälle betreibt, bestätigt das: "Die Verträge an den beiden Standorten, an denen keine Atomkraftwerke mit entsprechenden Steuereinnahmen betrieben wurden, enthalten auch Vereinbarungen über finanzielle Kompensationen", schreibt sie auf Anfrage.
Neben Ahaus und Gorleben sind das demnach auch die Samtgemeinde Gartow und der Landkreis Lüchow-Dannenberg in Niedersachsen. Wie hoch die Zahlungen sind, darf die BGZ nicht sagen - die ASKETA geht von einem Sockelbetrag von 800.000 bis 1,3 Millionen Euro zuzüglich variabler Zahlungen (zum Beispiel je Behälter) pro Jahr und Gemeinde aus. Insgesamt also womöglich bis zu 1,7 Millionen Euro.
Bundesumweltministerium: Einschränkungen "unstrittig"
Laut Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz handelt es sich um Altverträge. Die habe die BGZ im Jahr 2017 nach einem Kompromiss mit den Energieversorgern quasi mit der Zuständigkeit für die meisten Zwischenlager zusammen übernommen. Die Vereinbarungen seien noch mit der früheren Betreiberin, der privaten GNS Gesellschaft für Nuklear-Service, geschlossen worden.
"Die BGZ hat keine eigenen Mittel, um weitere Kompensationen leisten zu können. Auch der Bundeshaushalt enthält dafür keine Ausgabeermächtigung", schreibt das Ministerium. Zugleich sei "unstrittig", dass sowohl die verlängerte Zwischenlagerung als auch der Abbau der Atomkraftwerke die Nutzbarkeit der Standorte für andere Ansiedlungen einschränke.
Zwischenlager müssen ab 2034 neu genehmigt werden
Laut Olaf Schulze, dem Bürgermeister von Geesthacht und stellvertretenden Vorsitzenden der ASKETA, wird das Bündnis seine Forderungen nun verstärkt an die Fraktionen im Bundestag richten. Der muss sich, so ist es im Atomgesetz geregelt, nämlich mit jeder Verlängerung eines Zwischenlagers befassen. Deren Genehmigungen sind allesamt auf 40 Jahre befristet und laufen ab 2034 nach und nach aus.
NDR Schleswig-Holstein hat die Obleute beziehungsweise Sprecher der größten Fraktionen im Bundestagsausschuss, der sich unter anderem mit der nuklearen Sicherheit und deshalb auch mit der Endlagerfrage beschäftigt, um Stellungnahme zu den Entschädigungsforderungen gebeten.
Mögliche Entschädigung: Das sagen die Bundestagsfraktionen
Judith Skudelny (FDP) etwa antwortet, das Ansinnen der Gemeinden sei zwar sehr gut nachvollziehbar. "Die Situation, dass Flächen in privater Hand vorhanden sind, für die die Gemeinde eine andere Nutzung wünscht, ist jedoch kein seltener Einzelfall in Deutschland." Bei einer "außerordentlichen Beschwernis" müsse man allerdings über Kompensationen sprechen.
Harald Ebner (Grüne) schreibt, es müsse die "tatsächliche finanzielle Belastung" genau ermittelt - und dabei die jahrzehntelangen Gewerbesteuereinnahmen aus dem AKW-Betrieb berücksichtigt werden. Auch Jakob Blankenburg (SPD) betont den Profit der Kommunen durch die Kernenergie. "Zudem ist durch die sehr angespannte Haushaltslage wenig Spielraum für Ausgleichszahlungen in den Dimensionen, die ASKETA fordert", so Blankenburg.
Astrid Damerow (CDU/CSU) spricht sich dafür aus, einen finanziellen Ausgleich zu prüfen. Sie kündigt an, die Unionsfraktion werde die ASKETA-Gemeinden noch dieses Jahr nach Berlin einladen. Rainer Kraft (AfD) hält selbst die Kompensationen für Gorleben, Ahaus und Co. für "relativ obsolet". Denn von den Lagern, schreibt Kraft, gingen keine Gefahren aus, die "das übliche Maß" etwa bei Chemie-Ansiedlungen überschreiten würden.
Die Sprecher der Regierungsfraktionen SPD, Grüne und FDP gehen davon aus, sich im Zuge der Neugenehmigung der Lager jeden Fall einzeln anzuschauen - auch, um die "spezifischen Gegebenheiten" (Harald Ebner) nicht nur finanzieller, sondern vor allem sicherheitstechnischer Art prüfen zu können.
Kommunen wollen nicht still und heimlich Endlager werden
Olaf Schulze hofft, dass der Bundestag nicht scheibchenweise reagiert, sondern das Zwischenlagerkonzept einmal grundsätzlich überdenkt. Das neue Konzept soll dann nicht nur Ausgleichszahlungen für alle enthalten, sondern auch wieder zeitliche Befristungen. "Die Genehmigungen dürfen weiterhin immer nur einige Jahre gelten, damit regelmäßig die Situation bewertet wird - und wir nicht still und heimlich zu Endlagern werden", so Schulze.
Bürgermeister: Geht auch um Verlässlichkeit und Fairness
Laut Bundesumweltministerium kostete die Zwischenlagerung den Bund im Jahr 2023 allein in Schleswig-Holstein 48 Millionen Euro. Mit deutschlandweit insgesamt 429 Millionen Euro machte der Atommüll fast ein Fünftel der Gesamtausgaben des Ministeriums aus.
Für Martin Schmedtje geht es aber nicht allein um Geld. Es geht ihm um Verlässlichkeit der Politik - und Fairness: "Hier zeigt sich sehr deutlich", sagt der Bürgermeister mit Blick auf die Container am Kernkraftwerk, "dass die gesellschaftliche Verantwortung dafür, was wir mit den Überresten der atomaren Stromgewinnung machen, allein bei den Betreiberkommunen liegt - und das kann nicht sein."