30 Jahre Tschernobyl: Strahlende Spuren im Norden
Waldböden stärker belastet
Von den radioaktiven Spaltprodukten spielt heute nur noch Cäsium-137 eine Rolle. Aufgrund seiner langen Halbwertzeit von 30 Jahren ist die in Norddeutschland niedergegangene Menge noch zur Hälfte vorhanden. Die Böden sind auch im Norden Deutschlands noch kontaminiert - jedoch in einem weit geringeren Maß als in Süddeutschland. Vor allem Waldböden können laut Martin Steiner ein Problem sein: "Das Cäsium-137 wandert dort nur sehr langsam in tiefere Bodenschichten. In den oberen organischen Bodenschichten ist es leicht verfügbar und kann von Pilzen und Pflanzen leicht aufgenommen werden", erklärt der Physiker. Es fehlten dort bestimmte Tonminerale, die das Cäsium-137 binden können. Ein weiterer Grund ist, dass diese Böden nicht bearbeitet werden. Eine Vermischung des Bodens finde nicht statt.
Unterschiedliche Behörden überwachen Radioaktivität
Neben dem Bundesamt für Strahlenschutz überwachen weitere Behörden die Umweltradioaktivität, unter anderem das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) sowie der Deutsche Wetterdienst (DWD). In den Ländern sind die dortigen Behörden für die Messungen und Kontrollen zuständig. In Niedersachsen übernehmen unter anderem der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) und das Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (LAVES) solche Aufgaben. Insgesamt gibt es in Deutschland 1.800 Messstellen – ein engmaschiges Netz mit einer Rund-um-die Uhr-Überwachung.
LAVES kontrolliert Lebensmittel
Das LAVES untersucht jährlich 1.400 Proben. Ein besonderes Augenmerk wird auch dort auf das langlebige Cäsium-137 gelegt. Für Lebensmittel wurde nach Tschernobyl der Grenzwert bei 660 Becquerel pro Kilogramm Lebensmittel festgelegt. Bei Babynahrung und Milch liegt der Grenzwert bei 370 Becquerel pro Kilogramm. Das in Niedersachsen erzeugte Gemüse sowie Kartoffeln und Obst enthalten laut LAVES bereits seit mehreren Jahren nur noch unter 0,2 Becquerel pro Kilogramm. Das liegt unter der durch die Richtlinie festgelegten mindestens einzuhaltenden Nachweisgrenze für diese Erzeugnisse. Auch das Trinkwasser ist nach Angaben der Behörde in Niedersachsen praktisch unbelastet. Dort konnten bisher keine künstlichen Radionuklide mit Aktivitäten oberhalb der vorgegebenen Nachweisgrenze von 0,01 Becquerel pro Liter nachgewiesen werden.
Pilze regional stärker belastet
Relevant ist die Aktivität von Cäsium-137 heutzutage nur noch bei Wildpilzen, Wildfleisch und Honig aus der Lüneburger Heide. Nach Tschernobyl habe man bei bestimmten Wildpilzen wie Maronen-Röhrlingen oder Steinpilzen Spitzenwerte von mehr als 7.000 Becquerel pro Kilogramm gemessen, sagt Chemiker Wilfried Weiszenburger vom LAVES in Braunschweig. Allerdings seien die radioaktiven Belastungen auch damals schon regional unterschiedlich stark ausgefallen. So habe man bei manchen Proben auch nur Belastungen von 24 Becquerel pro Kilogramm festgestellt. Dies sei eine Folge der höchst unterschiedlichen Niederschlagsverteilung nach Tschernobyl, so Weiszenburger. "Heutzutage schwanken die durchschnittlichen Werte bei Wildpilzen zwischen 3 Becquerel pro Kilogramm im Nordwesten und rund 200 Becquerel pro Kilogramm im Südosten Niedersachsens." Dies sei jedoch deutlich unter dem Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilogramm. Honig aus der Lüneburger Heide weise höhere Cäsiumwerte auf, weil die Bodenbeschaffenheit dem von Waldböden ähnele und damit eine Vermischung und die daraus folgende Verdünnung fehle. Dadurch gelange das Cäsium-137 in die dort wachsende Besenheide und über den von Bienen gesammelten Blütennektar schließlich in den Honig.
Schwankende Werte bei Wildschweinen
Auch bei Wildtieren ist die Belastung mit radioaktiven Cäsium-137 rückläufig. Hier gilt ebenfalls der Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilogramm. Unter den Wildtieren sind zumeist Wildschweine heutzutage noch stärker mit Cäsium-137 belastet. Auch dies sei jedoch regional höchst unterschiedlich und könne zudem sogar von Tier zu Tier stark schwanken, sagt LAVES-Chemiker Wilfried Weiszenburger. "Obwohl man aufgrund der Halbwertzeit von einer Verringerung des Cäsium-137 ausgeht, haben wir 2004 beispielsweise bei einer Wildschwein-Fleischprobe einen Maximalwert von über 1.000 Becquerel pro Kilogramm gemessen." Das Phänomen erkläre sich dadurch, dass die Wildschweine im Winter bei Nahrungsmangel Futter aus dem zum Teil stärker belasteten Waldboden fressen. Zudem könne der Gewichtsverlust zu anteiligem Anstieg des Cäsium-Wertes führen. Sorgen müsse das aber nicht bereiten. Denn wie die für die Strahlenmessungen zuständigen Behörden einhellig betonen, ist die radioaktive Belastung heutzutage in Deutschland gering. Und niemand ernähre sich schließlich nur von Wildschweinfleisch und Waldpilzen, so Wilfried Weiszenburger.
Bomben und explodierte Reaktoren
Aber nicht nur Tschernobyl hat die natürliche Umweltradioaktivität weltweit erhöht. Vor der Reaktorkatastrophe waren in erster Linie die zahlreichen überirdischen Atombombentests vor allem der Nuklear-Supermächte USA und UdSSR in den 1950er und Anfang der 1960er-Jahre für eine erhöhte Umweltradioaktivität auf der Nordhalbkugel der Erde verantwortlich. Radionuklide wie unter anderem Cäsium, Plutonium und Strontium sind die strahlenden Hinterlassenschaften der militärischen und, wie im Fall von Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011, außer Kontrolle geratenen zivil genutzten Atomkraft. Spuren finden sich deshalb heute noch - auch in Norddeutschland.
- Teil 1: Kurz- und langlebige Radionuklide
- Teil 2: Waldböden stärker belastet