Todkranker Matteo: Wie viel wert sind einige Jahre Leben?

Stand: 07.09.2023 16:23 Uhr

Matteo leidet an der tödlichen Krankheit Tay-Sachs. Ein teures Medikament scheint dem Dreijährigen aus dem Landkreis Osnabrück zu helfen, die Krankenkasse will aber nicht zahlen. Nun zieht die Familie vor das Bundesverfassungsgericht.

von Daniel Sprehe

Matteo hat in dieser Nacht gut geschlafen, auch wenn seine Haare noch ganz verwuschelt aussehen. Der Dreijährige sei gut drauf, sagt seine Mutter Jasmin Wilker. Als sie ihn aus seinem Spezialstuhl hebt, scheint ein kurzes Zucken seiner Mundwinkel das zu bestätigen. Doch klar ist auch: Matteo ist schwer krank. 

Krankheit Tay-Sachs verläuft tödlich

Tay-Sachs ist eine degenerative neurologische Erkrankung. Die Wahrscheinlichkeit, daran zu erkranken, liegt bei 1 zu 250.000. Mit der Zeit sterben immer mehr Nervenzellen der Patienten ab. Die Lebenserwartung liegt zwischen drei bis vier Jahren. Matteo hat die Diagnose im März des vergangenen Jahres erhalten. Mit seinen drei Jahren kann er nicht laufen, nicht sprechen, und auch das Sehen ist beeinträchtigt. Aber er könne lachen, weinen und seine Gefühle ausdrücken, sagt seine Mutter. Außerdem könne er selbst atmen, essen und trinken - und das sei mehr, als die meisten anderen Kinder mit Tay-Sachs in diesem Alter könnten. Zuletzt sei er sogar wacher und zugänglicher als zuvor gewesen, sagen seine Eltern. Das könnte auch an einem neuen Medikament liegen, das er seit Mai bekommt.

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Medikament mit Wirkstoff Miglustat macht Hoffnung

Zwar gibt es keine offiziell zugelassene Therapie, aber ein Medikament, das für eine sehr ähnliche Krankheit zugelassen ist. Miglustat heißt der Wirkstoff des Medikaments, welches auch schon andere Kinder mit Matteos Krankheit im sogenannten Off-Label-Use bekommen. "Mein 14-jähriger Sohn bekommt dieses Medikament jetzt seit zehn Jahren", erzählt Folker Quack, Vorsitzender des Vereins "Hand in Hand gegen Tay-Sachs und Sandhof". "Natürlich hat er weiter abgebaut, aber nicht so schnell. Wir haben einfach viel kostbare Zeit mit ihm gewonnen. Darum geht es." Und auch bei Matteo schlage das Medikament offenbar gut an, sagt seine Mutter. "Weinen konnte er vorher gar nicht mehr und auch lachen ist schon ganz lange her. Jetzt lacht er jeden Tag und zeigt, ob er sich wohlfühlt."

Keine Studien zur Wirksamkeit des Medikaments

Das bestätigt auch Judith Edenfeld vom Sozialpädiatrischen Zentrum Osnabrück (SPZ). "Wir gehen davon aus, dass das mit der medikamentösen Therapie zu tun hat", sagt sie. "Denn eigentlich würde man bei dem Krankheitsbild Abbauvorgänge erwarten, so wie wir es auch vorher schon gesehen haben. Dinge, die Matteo jetzt noch kann, haben wir nicht erwartet." Doch es gibt keine Studien, die die Wirksamkeit des Medikaments bestätigen. Das liegt auch daran, dass die Krankheit so selten ist und die Kinder nicht alt werden.

Krankenkasse will Kosten für Medikament nicht übernehmen

Matteos Krankenkasse, die AOK Niedersachsen, hat deshalb die Übernahme der Kosten verweigert. "Bei dem beantragten Arzneimittel handelt es sich (...) um ein Präparat, das für die vorliegende Erkrankung keine Zulassung besitzt und für dessen Erfolgsaussichten es bislang keine medizinischen Studien gibt. Die Kostenübernahme für ein nicht zugelassenes, für das Krankheitsbild unerforschtes Medikament ist bei der gesetzlichen Krankenversicherung keine Ermessensfrage", teilte die Krankenkasse mit. Mehr will die AOK Niedersachsen zu dem Fall nicht sagen und verweist darauf, dass das Hauptsacheverfahren vor dem Sozialgericht Osnabrück noch läuft. Doch das könnte erst in ein paar Jahren abgeschlossen sein. Für Matteo viel zu spät.

Der dreijährige Matteo und seine Eltern. © NDR Foto: Daniel Sprehe
Matteos Familie möchte noch so viel Zeit wie möglich mit ihrem Sohn verbringen.
Medikament kostet mehr als 5.000 Euro pro Monat

Für Familie Wilker ist eine Welt zusammengebrochen. "Wir wünschen uns einfach, dass er lange, lange noch bei uns sein kann", erzählt Mutter Jasmin. "Dass er mit uns noch viel erleben kann. Das ist einfach das, was das Medikament ihm gibt. Dass er einfach normal an unserem Leben teilhaben kann, mit uns in den Urlaub fahren kann, mit anderen Kindern zusammen sein kann. Das könnte er ja alles nicht mehr, wenn er beatmet werden muss und die Krankheit weiter fortschreitet." Das Medikament selbst zu kaufen liegt außerhalb ihrer Möglichkeiten. Eine Tablette kostet 85 Euro. Zwei davon muss Matteo jeden Tag nehmen. Pro Monat sind das mehr als 5.000 Euro. Und Matteo bleibt wenig Zeit, sein Körper baut immer weiter ab. Das Therapiefenster, so sagen die Ärzte, schließe sich. "Es geht darum, Matteo so lange stabil zu halten, bis es möglicherweise eine Therapie gibt", sagt Judith Edenfeld.

Familie Wilker klagt vor Gericht

Familie Wilker hat sich deshalb Hilfe bei einem Anwalt gesucht und ist vor Gericht gezogen. Zunächst gab das Sozialgericht Osnabrück der Familie in einem Eilverfahren recht und ordnete an, dass die AOK das Medikament zu zahlen habe. Doch für Matteo und seine Familie ist die Freude da nur von kurzer Dauer: Die AOK ruft das Landessozialgericht an. Das entscheidet im Sinne der Krankenkasse. 

Anwalt: Nötige Studie zur Krankheit "kann es nicht geben"

Philip Koch, Anwalt der Familie, zeigt sich über diese Entscheidung enttäuscht. "Das Landessozialgericht hat sich maßgeblich an der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts orientiert." Das fordere als Voraussetzung für eine Off-Label-Use-Versorgung mit einem nicht zugelassenen Medikament mindestens eine Phase-3-Studie. Damit solle eine Erfolgsaussicht der Behandlung begründet werden, so Koch. "Die gibt es nicht und kann es auch nicht geben bei der Erkrankung, über die wir hier reden, einfach aufgrund der geringen Patientenzahl", erklärt der Anwalt.

Familie zieht vor das Bundesverfassungsgericht

Nun will der Anwalt das Bundesverfassungsgericht einschalten. Er setzt große Hoffnung auf die Richter am höchsten deutschen Gericht. Denn schon am 6. Dezember 2005 haben diese das sogenannte Nikolaus-Urteil gefällt. Darin nennt das Gericht drei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die gesetzliche Krankenkasse die Kosten für eine solche Off-Label -Therapie übernehmen muss:

  1. Die Erkrankung muss tödlich verlaufen oder zumindest lebensbedrohlich sein. 
  2. Es gibt keine zugelassene Therapie der Schulmedizin. 
  3. Zumindest entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.

Alle drei Bedingungen sieht der Anwalt in Matteos Fall erfüllt. In den nächsten Tagen will er ihn beim Bundesverfassungsgericht vorlegen. Die Familie hofft auf eine schnelle Entscheidung zu Matteos Gunsten. Denn der Dreijährige hat nur noch Tabletten für die nächsten elf Tage.

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Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 07.09.2023 | 19:30 Uhr

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