Tag der seltenen Erkrankungen: 22-Jährige verlor alle Haare
Innerhalb weniger Tage verlor Leonie Kalin ihre Haare. Die Diagnose: Alopecia Universalis, eine besonders seltene Form von Haarausfall. Für die Lingener Studentin war das zunächst ein Schock.
Mittlerweile teilt sie ihre Erfahrungen auf Tiktok, um anderen Mut zu machen. "Hallo ihr Lieben, heute möchte ich euch meine neuen Perücken vorstellen", spricht Leonie Kalin in die Frontkamera ihres Handys. Die heute 24-Jährige hält eine blonde Perücke aus Echthaar in der Hand. Auf dem Tisch vor ihr liegen zwei braunhaarige Perücken. Das Video, das sie gerade aufnimmt, wird sie später auf ihrem Tiktok-Kanal hochladen. Tausende schauen ihre Videos -- eines der ersten Videos über ihren Haarausfall hat 1,3 Millionen Aufrufe. Dort sieht man, wie der Studentin nach und nach die Haare ausfallen, bis sie eine Glatze hat.
Mit Haaren in den Urlaub, ohne zurück
Leonie Kalins Geschichte beginnt im Sommer 2023, kurz vor einem Urlaub, der ihr Leben verändern sollte. Sie hatte sich ihre Haare beim Friseur blondieren lassen – nichts Ungewöhnliches, denn ihre Haarfarbe hat sie schon oft verändert. Doch dieses Mal merkte sie schon wenige Tage später, dass etwas nicht stimmte. "Ich bin mit Haaren in den Urlaub geflogen und ohne zurückgekommen", sagt die Studentin.
Ärzte rätseln lange
Während ihres einwöchigen Urlaubs fiel ihr fast das gesamte Kopfhaar aus – zuerst im Nacken, dann am Ansatz, schließlich überall. Der Schock war groß. Zurück zuhause, ging sie sofort zum Hautarzt. Doch eine schnelle Antwort bekam sie nicht: Jeder Arzt, den sie konsultierte, hatte eine andere Theorie. Erst nach vielen Untersuchungen und Arztbesuchen stand fest: Alopecia - ein Krankheitsbild, das zu plötzlichem Haarverlust führt und häufig irreversibel ist.
Haarausfall: Für die junge Frau auch eine psychische Belastung
Sie verlor nicht nur ihre Kopfhaare – auch ihre Wimpern, Augenbrauen und sämtliche Körperhaare verschwanden. In der Anfangszeit sei sie oft so müde gewesen, dass sie den ganzen Tag geschlafen hat. Die Ursache ist bis heute nicht eindeutig geklärt, aber die Blondierung war nicht der Auslöser. "Wenn du acht verschiedene Ärzte fragst, bekommst du auch acht verschiedene Antworten", urteilt Kalin. Sie war in verschiedenen Kliniken: Dortmund, Lingen, Bad Bentheim, Münster, Osnabrück. Stress, eine Schilddrüsenerkrankung oder die Kombination aus beidem - das waren die häufigsten Vermutungen der Ärzte. Die Unsicherheit der Mediziner war für die Lingenerin eine große Belastung.
Unterstützung durch Familie
Der Blick in den Spiegel war für Leonie Kalin anfangs kaum auszuhalten. "Ich habe mich selbst nicht mehr erkannt", sagt sie. Es seien viele Tränen geflossen, auch bei ihren Eltern, die ihr bei Arzt- und Friseurterminen halfen. "Mit jedem Kämmen ist ein weiteres Haarbüschel ausgefallen, da mussten wir alle weinen", erinnert sich ihr Vater Jens Kalin. Seine Tochter sah für ihn "fürchterlich krank" aus - etwas, das er von der heute 24-Jährigen so nicht kannte. Schnell holte sich Leonie Kalin professionelle Hilfe und ging in Psychotherapie.
Alopecia Universalis ist in Deutschland sehr selten
Mittlerweile ist klar, dass Leonie Kalin an Alopecia Universalis erkrankt ist. Das ist die schwerste Form von Alopecia. Nur rund zehn Prozent der 1,4 Millionen Alopecia-Betroffenen in Deutschland leiden unter dem kompletten Haarausfall. Bekannter ist die etwas schwächere Form, Alopecia Areata, bei der Betroffene unter kreisrunden Haarausfall leiden. Bei Alopecia-Erkrankten hemmen Antikörper den Haarwachstum. Deswegen würden auch Haarimplantate nichts bringen, wie Leonie Kalin erklärt: "Die Haare würden direkt wieder abgestoßen werden."
Studie soll helfen, das Haarwachstum zurückzubringen
Um ihre Haare zurückzubekommen, nimmt Leonie Kalin seit Herbst an einer Langzeitstudie einer Klinik in Bad Bentheim teil. Zwei Jahre lang soll sie je eine Tablette am Tag einnehmen. "Einfach gesagt, schwächen die Medikamente mein Immunsystem, damit die Antikörper nicht mehr mein Haarwachstum blockieren können", erklärt die 24-Jährige. Die Nebenwirkung: Sie ist anfälliger für Erkältungen und Co. Für Leonie Kalin überwiegen zurzeit die Vorteile: "Es hat gut zwei Wochen gedauert und dann haben die Haare auf einmal wieder angefangen zu wachsen."
Teure Medikamente und viele Arztbesuche
Alle vier bis sechs Wochen muss die Lingenerin zur Überprüfung in die Klinik. Für Kalin reinste Routine. Was ihr Sorgen bereitet: Die über 1.000 Euro teuren Medikamente könnte sich die Studentin nicht leisten. Aktuell werden die Kosten von der Studie getragen. Die Krankenkasse zahlt Leonie kein Geld für Medikamente. "Alopecia ist laut Krankenkasse ein ästhetisches Problem und wird nicht als ernsthafte Erkrankung angesehen", sagt Kalin. Auch ihre Perücken werden nur minimal bezuschusst.
Krankenkasse zahlt nur wenig
Aktuell bekommt sie 800 Euro im Jahr, das ist aber auch von Krankenkasse zu Krankenkasse unterschiedlich. Eine Echthaarperücke kostet laut Kalin bis zu 2.800 Euro. Es gebe auch günstigere Perücken aus Kunststoff, die würden allerdings auch kaum länger als ein paar Monate halten und seien extrem kratzig. "Ich wurde damit abgewimmelt, dass man auf der Straße beim Vorbeilaufen nicht sieht, dass ich eine Behinderung habe", erinnert sich Leonie Kalin an das Gespräch mit der Krankenkasse.
Leonie Kalin will anderen Betroffenen helfen
Die Studentin scheint damit nicht alleine zu sein. Auf Tiktok schreiben ihr viele Betroffene. Sie fragen, woher sie ihre Perücken habe, wie sie ihre Augenbrauen aufklebe oder bedanken sich, dass sie so offen über ihre Erkrankung spricht. "Ich hätte mir damals gewünscht, ein Vorbild zu haben - jemand, der mir Orientierung gibt", so Kalin. Jetzt hat sie selbst diese Rolle eingenommen.
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