Mehr Rosenkriege: Sorgerechtsfälle in Niedersachsen nehmen zu
An niedersächsischen Gerichten wurden im vergangenen Jahr mehr als 19.000 Sorgerechtsverfahren abgeschlossen. Dabei lassen immer mehr Eltern ihre gerichtlichen Konflikte eskalieren.
Insgesamt hat die Zahl der Auseinandersetzungen um die elterliche Sorge für das Kind nach sechs Jahren wieder einen Höchststand erreicht. Wenn Eltern dann auch noch den Konflikt wie in einer Spirale hochschrauben, sind Gerichte und Jugendhilfe besonders herausgefordert. Der Streit um Umgang und Sorgerecht wird dann durch alle Instanzen geführt. Die Leidtragenden sind die Kinder.
Kindeswohl gerät aus dem Blick
Der hannoversche Rechtsanwalt Pajam Rokni-Yazdi hat im Jahr rund 80 solcher Fälle auf dem Tisch. Tendenz steigend. Inzwischen vertritt er bundesweit Eltern in hoch eskalierten Auseinandersetzungen mit dem anderen Elternteil. Rokni-Yazdi kritisiert, dass dabei das Kindeswohl häufig aus dem Blick gerät. Er erlebe immer wieder Familiengerichte, die das Leitbild der gemeinsamen elterlichen Verantwortung auf Biegen und Brechen umsetzten. Grundsätzlich sei es gut, beide Elternteile in ihren Rechten zu stärken, es gebe aber auch viele Fälle, in denen die gemeinsame elterliche Sorge nicht umsetzbar sei, so der Anwalt: "Ich glaube, die Gründe für das Eskalieren liegen auf der einen Seite in der Elternbeziehung, in der Paarbeziehung. Da gibt es ja ganz unterschiedliche Facetten. Und dann treffen diese Eltern auf ein sehr schwieriges, anfälliges familienrechtliches System, das aus meiner Sicht nicht so gut aufgestellt ist, dass es diese Eltern tatsächlich in geordnete Bahnen leiten kann."
Verfahren dauern häufig zu lange
Rokni-Yazdi fordert mehr Richter und schnellere Verfahren. Er erlebe häufig, dass Gerichte mit komplexen Fällen überlastet seien, weil die zeitlichen Ressourcen fehlten. Das niedersächsische Justizministerium erkennt auf Anfrage des NDR keinen Mangel an Richtern. Auf die Frage nach Möglichkeiten zur Beschleunigung von Verfahren heißt es, dass Sorgerechtsverfahren inzwischen grundsätzlich einem Vorrang- und Beschleunigungsgebot unterlägen. In solchen Verfahren werde ein Gerichtstermin bestimmt, der spätestens einen Monat nach Beginn des Verfahrens stattfinden solle. Das, sagt Anwalt Rokni-Yazdi, habe sich durchaus bewährt. Doch nach dem ersten Termin gerieten Verfahren meist ins Stocken. "Und deshalb müssen auch Folgetermine aus meiner Sicht vom Gesetzgeber vorgegeben werden, die Gutachtendauer von Sachverständigen muss deutlich eingegrenzt werden."
Mangel an Sachverständigen
Die Rolle der Sachverständigen, die Gutachten beispielsweise über die familiäre Situation oder die Verfassung der Kinder erstellen, beschäftigt auch Sabine Quak. Sie ist Familienrichterin am Amtsgericht Hameln und stellvertretende Direktorin des Gerichts. Rechnerisch kann sie im Schnitt sechs Stunden für einen Fall veranschlagen, sagt sie. Kaum vorstellbar, ohne die Expertise von Fachleuten. "Aus meiner Sicht herrscht eine große Not bei der Verfügbarkeit von qualifizierten Sachverständigen. Da dauert es manchmal dann Monate, bis das Gutachten erstattet wird, das für die Beteiligten schwer erträglich. Da muss sich was tun." Das Justizministerium hat über die Anzahl der Sachverständigen nach eigenen Angaben keinen Überblick. Eine Suche im bundesweiten IHK-Verzeichnis ergibt für ganz Deutschland gerade einmal 48 öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für Psychologie. Bausachverständige gibt es beispielsweise mehr als fünfmal so viele. Allerdings können auch nicht öffentlich bestellte und vereidigte Psychologen oder Psychiater Gutachten erstellen.
"Sachverständige übernehmen ureigene Aufgaben des Gerichts"
Anwalt Rokni-Yazdi fordert, die Justiz müsse wegkommen von einem "Gutachter-Automatismus". Er sorge dafür, dass Gerichte schon bei der kleinsten Fragestellung Sachverständige beauftragten, "die im Grunde die ureigensten Aufgaben des Gerichts übernehmen, sodass man regelmäßig den Eindruck hat, dass nicht das Gericht die Entscheidung fällt, sondern der Sachverständige". Das Justizministerium verweist auf Anfrage darauf, dass Familienrichterinnen und -richter seit Januar dieses Jahres "belegbare Kenntnisse" auf bestimmten Gebieten über das Juristische hinaus nachweisen müssten, sich also einschlägig fortbilden müssten, zum Beispiel in Psychologie oder bei Kommunikation mit Kindern.
Immer mehr Eltern liefern sich "Rosenkriege"
Richterin Quak erlebt mit Sorge, dass sie und ihre Kolleginnen und Kollegen vermehrt Fälle verhandeln, bei denen der Streit zwischen Elternteilen massiv eskaliert: "Ich bin seit 25 Jahren Familienrichterin, mein Eindruck und auch der meiner Kollegen ist, dass die hochstrittigen Sorge- und Umgangsrechtsverfahren, aber auch die komplizierten Verfahren, in denen es um die Entziehung der elterlichen Sorge, also um die Herausnahme der Kinder aus den Familien geht, deutlich zugenommen haben."
Kindeswohlgefährdung durch Trennung
Statistisch erfasst werden hochstrittige Fälle nicht extra. Aber auch beim Mediationsverein "Waage Hannover" steigen die Fallzahlen seit einigen Jahren erheblich. Die Juristin Roberta Cifariello ist langjährige Mediatorin dort. Sie und ihr fünfköpfiges Team für Familienrechtsfälle hätten es nur noch mit hochstrittigen Fällen zu tun, sagt sie. Und die Fallzahlen stiegen kontinuierlich. Bei der Mediation gehe es darum, den Eltern bewusst zu machen, welche Folgen ihr Streit für die Entwicklung der Kinder habe: "Kindeswohlgefährdung kann auch von einer Trennung kommen und dadurch dass die Eltern es nicht schaffen, miteinander in eine gute Kommunikation zu kommen." Eltern im Kriegsmodus schadeten ihren Kindern nachhaltig.
Mediation als Ausweg
Mit einer Mediation komme häufig auch in schwere Konflikte Bewegung. Eltern könnten dabei aus der Kränkung und dem Kriegsmodus zurück in ihre eigentliche Rolle finden, berichtet Cifariello. Den größten Teil der Arbeit der "Waage" finanzieren die Stadt und die Region Hannover. Der Rest wird von Spenden abgedeckt. Cifariello bedauert, nicht überall in Niedersachsen gäbe es ein so gutes Beratungs- und Mediationsangebot, wie in Hannover. Sie appelliert an Land und Kommunen, flächendeckend in Angebote zu investieren - im Sinne des Kindeswohls.