Zu enge Mutter-Kind-Bindung? Staat nimmt Kinder weg
Bei Sorgerechtsstreitigkeiten werden in Deutschland immer wieder Kinder ihren Müttern weggenommen, weil Jugendämter und Familiengerichte sich auf eine veraltete Theorie berufen.
Elisa L.* kann kaum noch richtig schlafen. "Wenn ich zur Ruhe komme, ploppt die Vergangenheit immer wieder auf", sagt sie. Immer wieder versuche sie, zu verstehen, wie es so weit kommen konnte, dass sie und ihr damals acht Jahre alter Sohn Paul* für mehr als drei Jahre getrennt wurden. Doch es gelingt ihr nicht.
Jugendamt glaubt der Mutter nicht
Alles beginnt mit der Trennung von ihrem Mann Ende 2015. Plötzlich berichtet Paul davon, dass sein Vater ihn schlagen würde, wie in den Akten zu lesen ist; er vertraut sich seiner Mutter an. Elisa wendet sich an das Jugendamt, doch das glaubt Paul und seiner Mutter nicht. Aus den Gerichtsakten geht hervor, dass sich das Jugendamt nicht vorstellen kann, dass Paul regelmäßig von seinem Vater geschlagen würde: Der Vater mache "einen ruhigen und ausgeglichenen Eindruck", die Mutter dagegen wirke "sehr belastet".
"Mir wurde grundsätzlich vorgeworfen, dass ich mein Kind manipulieren würde und damit instrumentalisieren würde, bestimmte Sachen zu sagen, die in meinem Interesse sind", erinnert sich Elisa L. Man habe das damit begründet, dass Paul sehr eloquent sei. "Und das wäre das Indiz dafür, dass das gar nicht die Erfahrung des Kindes sei." Einmal ausgesprochen, klebte dieser Vorwurf an ihr, wie die Akten zeigen. "Egal, was ich gemacht habe: Es wurde mir negativ angerechnet", sagt Elisa L. Pauls Vater weist den Vorwurf der Gewalt als nicht berechtigt zurück.
Veraltete Theorie der Kind-Manipulation durch die Mutter
Hinter dem Vorwurf, dass die Mutter ihr Kind manipulieren würde, steckt eine veraltete Theorie eines amerikanischen Psychiaters: Sie heißt "Parental Alienation Syndrome" (PAS). Es ist die These einer zu engen, geradezu symbiotischen Bindung zwischen zumeist Mutter und Kind, ohne Platz für den Vater. Dieser werde völlig unbegründet abgelehnt und aus dem Leben des Kindes gedrängt. Eine Folge davon könne sein, dass das Kind keine eigene Identität entwickle.
Soziologe: Theorie "unfachlich und unwissenschaftlich"
Für den renommierten Soziologen Wolfgang Hammer ist es ein "himmelschreiender Skandal", dass diese Theorie zur Grundlage von Entscheidungen durch Jugendämter und Gerichte genommen werde. "Das ist von allen seriösen Wissenschaftlern, also Psychologen, Medizinern, Psychiatern, als eindeutig unfachlich und unwissenschaftlich widerlegt worden", sagt er. In vielen Ländern sei es sogar verboten, das Konzept anzuwenden, auch vor Gericht. Aber in Deutschland sei PAS weit verbreitet; werde sogar in Fortbildungen für Jugendamtsmitarbeitende gelehrt.
Hammer war mehr als 30 Jahre Leiter der Abteilung Kinder- und Jugendhilfe in der Hamburger Sozialbehörde; arbeitet auch jetzt noch als Berater für die Bundesregierung. Er hat rund 600 Fälle wie den von Elisa L. untersucht, in denen fast ausschließlich Müttern vorgeworfen wird, das eigene Kind zu manipulieren; selbst dann noch, wenn das Kind bereits woanders lebte und die Mutter kaum noch sah. "Eine solche Manipulationsfähigkeit gäbe es ja nur, wenn ich ein Kind in einem geschlossenen System ohne Einflüsse von draußen würde manipulieren können", sagt Soziologe Hammer. "Und insoweit ist diese These wissenschaftlich völliger Unfug." Das zuständige Jugendamt will sich zum konkreten Fall nicht äußern, schreibt aber, es ziehe PAS nicht zur Begründung einer Kindswohlgefährdung heran.
Kind zieht zum Vater, Mutter entdeckt blaue Flecken
Trotzdem sorgt das Jugendamt dafür, dass Paul gegen seinen Willen zum Vater ziehen muss, knapp zwei Monate nach der Trennung seiner Eltern. Mehr als zwei Jahre lebt er dort. Währenddessen geht es ihm immer schlechter. Bei einem Treffen entdeckt Elisa verdächtige blaue Flecken an Pauls Oberarmen, wie in den Akten zu lesen ist. Sie bringt ihn zum Kinderarzt, um diese dokumentieren zu lassen. "Was das Groteske ist: Ich musste Mut aufbringen, mit meinem Kind zum Kinderarzt zu gehen", sagt Elisa L. Sie habe Angst gehabt, dass ihnen wieder nicht geglaubt werde: "Reicht es aus, dass da jetzt blaue Flecke sind? Oder wird man mir unterstellen, dass ich die blauen Flecken jetzt auch wieder manipuliert habe?"
Doch statt zurück zur Mutter zu ziehen, wird Paul in Obhut genommen - für weitere zehn Monate. Erst nachdem eine Gutachterin den Fall für das Gericht neu aufrollt, kann er zurück zu seiner Mutter ziehen und muss den Vater nicht mehr sehen. Denn die Gutachterin kommt zu dem Schluss, dass Elisa und Paul L. wohl die Wahrheit gesagt haben: Sie ist überzeugt von körperlicher und seelischer Gewalt durch den Vater. Stellungnahmen von Pauls Ärzten stützen das. Pauls Vater bestreitet das bis heute. Elisa L. verfügt inzwischen allein über das Sorgerecht.
Soziologe: Qualifizierungsoffensive für Gerichte
Soziologe Hammer ist sich sicher, dass man am Umgang der Gerichte und Jugendämter mit diesem Thema etwas ändern könnte. Mit einer Qualifizierungsoffensive für die Gerichte zum Beispiel, sagt er. "Und auf Jugendamtsseite müsste es verboten werden, an Fortbildungen teilzunehmen, wo diese Ideologie auch noch als Fachfortbildung öffentlich finanziert wird."
Für Paul und Elisa L. käme das zu spät. Sie leiden noch heute an schweren körperlichen und psychischen Folgen der erzwungenen Trennung.
*Die Namen wurden zum Schutz der Betroffenen geändert.