Wie "Brothers" aus Göttingen Jugend-Gewalt verhindern wollen

Stand: 17.11.2023 22:10 Uhr

Gewalt verhindern, Grenzen respektieren - bei den "Brothers" lernen das Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund auf Augenhöhe. Wie ein Projekt aus Göttingen Schule macht.

von Benedikt Bathe

"Wir sind hier nicht, um euch zu sagen, was richtig ist und was falsch." Ferit Kilic stellt das gleich zu Beginn des Workshops klar. Der "Brother" steht vor der achten Klasse der Geschwister-Scholl-Gesamtschule in Göttingen, die Schülerinnen und Schüler schauen ihn erwartungsvoll an. Ein erhobener Zeigefinger, das würde nicht zu dem passen, was Kilic vorhat.

Gewaltprävention durch Perspektivwechsel

Schulhöfe sind nur ein Ort im Land, an dem zurzeit viele Gegensätze deutlich werden: Gegensätze im Nahostkonflikt, aber auch bei Geschlechterrollen oder Sexualität. Manche dieser Konflikte schlagen in Gewalt über. Die "Brothers" wollen den Jugendlichen zeigen, wie sie ihre gegenseitigen Unterschiede akzeptieren können - um daran zu wachsen.

Innehalten vor dem ersten Faustschlag

Ferit Kilic von der Göttinger Initiative "Brothers" spricht in einem Klassenzimmer mit einem Jugendlichen. © NDR Foto: Benedikt Bathe
Ferit Kilic von der Göttinger Initiative "Brothers" erklärt Jugendlichen, wie sie Gewalt verhindern können.

Wie das geht, macht Ferit Kilic wenig später vor: Breitbeinig läuft er auf seinen Teampartner Abdulrahman Omran zu. Die beiden rempeln sich an, schnell entspinnt sich ein Wortgefecht mit wüsten Beschimpfungen. Jetzt muss eigentlich der erste Faustschlag folgen. Doch Kilic wendet sich abrupt zur Klasse: "Okay - stopp! Was ist passiert?" Die Schülerinnen und Schüler diskutieren nun, warum die Situation eskalieren konnte. Verschiedene Rollenspiele haben die "Brothers" mitgebracht, später sollen die Jugendlichen eigene Alltagssituationen nachstellen.

Grenzen erkennen und respektieren

"Sie sollen darüber nachdenken, was sie selbst ausmacht - und ob Gewalt dabei überhaupt eine Lösung ist", erklärt Kilic. Seine Grundregel: Alles darf ausgesprochen werden, die Meinungen werden ernst genommen und dann offen diskutiert. Kilic vertraut auf die Einsicht durch Selbstreflexion. "Mir hat das gezeigt, dass die Grenzen bei meinen Freunden anders sind als bei mir", sagt Schülerin Samira am Ende der Stunde. Sie hat sich vorgenommen, stärker darauf zu achten.

Jugendliche als Multiplikatoren

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Das Wissen wollen Kilic und seine Kolleginnen weitergeben. Abdulrahman Omran ist einer von sieben "Brothers" im Jugendalter, die in den vergangenen drei Jahren für das Projekt ausgebildet worden sind. Die Coaches sollen die Ideen des Projekts in ihre Freundesgruppen tragen, außerdem begleiten sie die Workshops an den Schulen. "Als ich damals in dem Alter war, hätte mir ein 'Brother' sehr gutgetan und die eine oder andere Ehrenrunde erspart", sagt Kilic, der in direkter Nachbarschaft der Geschwister-Scholl-Schule aufgewachsen ist.

Nachahmer in Niedersachsen gesucht

Fast jede Woche sind die "Brothers" mittlerweile an einer anderen Schule zu Gast, längst zählen junge Geflüchtete nicht mehr zur alleinigen Zielgruppe. "Die Jugendlichen bekommen das Rüstzeug, tradierte Wertvorstellungen zu hinterfragen, andere Sichtweisen zu entdecken und sich ihre eigene Meinung zu bilden", sagt Niedersachsens Europaministerin Wiebke Osigus über das Projekt. Ihr Haus hatte 2020 die Anschubfinanzierung gegeben, mittlerweile sind Stadt und Landkreis Göttingen als Geldgeber im Boot. Und es gibt Pläne für mehr: Das Trainingskonzept steht Nachahmern zur Verfügung, bald soll es Schulungen in anderen niedersächsischen Städten geben.

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