Von Schlesien nach Hardegsen: 80 Jahre Flucht und Vertreibung
Vor 80 Jahren befreiten die Alliierten Deutschland von der Nazidiktatur. Zeitgleich flüchteten Millionen Deutsche vor der Roten Armee nach Westen. Darunter Erika Jeske aus Hardegsen.
"Enkelkinder" steht auf einem Kissen geschrieben, das hinter Erika Jeske auf ihrem Sofa im Wohnzimmer platziert ist. Sie zeigt Fotos von ihrer Familie - Kinder, Enkel und Urenkel. Und von ihrem im vergangenen Jahr verstorbenen Mann. Es wird deutlich, wie wichtig die Familie für die 85-jährige Rentnerin aus Hardegsen im Landkreis Northeim ist.
Bombennacht in Hannover führt zu Flucht nach Schlesien
Wenn Erika Jeske von ihrer Fluchtgeschichte erzählt, spricht sie klar, geradezu sachlich und nüchtern. Sie berichtet vom Zweiten Weltkrieg, einem Bombenangriff auf Hannover. Keine sechs Jahre alt war sie damals, die Bomben seien ihre ersten Erinnerungen. "Von dem Moment an weiß ich alles, was passiert ist. Die Fenster waren kaputt. Meine Mutter hat mich auf den Tisch gesetzt und hat mir die Beine verbunden von Phosphorsplittern", sagt Erika Jeske. Ihre Mutter flieht mit ihr im Zug zu den Großeltern nach Schlesien. Dort lebt auch ihr zwei Jahre älterer Bruder. Die Zeit dort währt aber nicht lang.
Tod der Mutter auf der Flucht
Die Polen und die Rote Armee nehmen Schlesien ein. Das junge Mädchen, ihr Bruder und ihre Mutter werden vertrieben, sagt sie. Im Zug und im Planwagen geht es nach Westen, über Prag. Schließlich landen sie in Magdeburg und Gardelegen in Sachsen-Anhalt. Die Mutter ist zu diesem Zeitpunkt schwer krank. Ihr Bruder und sie besuchen sie häufig im Krankenhaus. "Auf einmal hielt ein Auto an, hat uns eingeladen und uns ins Heim gebracht. Die Mutter haben wir seitdem nicht mehr gesehen, also sie war gestorben", berichtet Jeske nüchtern.
Zwangsadoption und Flucht über die Aller nach Moringen
Erika Jeske und ihr Bruder werden getrennt und adoptiert - gegen ihren Willen. Schließlich organisieren Verwandte über Flüchtlingshelfer ihre Flucht. Dabei muss das junge Mädchen auch die kalte Aller durchschwimmen. "Ich kann heute gar nicht mehr sagen, wie ich da durchgekommen bin", sagt Jeske, selbst verwundert. Sie und ihr Bruder kommen zu den Großeltern - die es zu Fuß von Schlesien nach Moringen im Landkreis Northeim verschlagen hatte. Jeskes Vater ist zu diesem Zeitpunkt verschollen und wurde 1950 für tot erklärt. Ihr Bruder habe darunter immer sehr gelitten. "Der hatte im Keller einen kleinen Altar gebaut, wo er immer mit seinen Eltern gesprochen hat", sagt die 85-Jährige.
Neues Leben in Hardegsen: Konflikte um den Glauben
Sie hingegen sei immer eine starke Frau gewesen. Dennoch spürt man im Gespräch, wenn sie etwas belastet. Etwa, wenn sie davon erzählt, dass ihre katholischen Großeltern 1960 nicht zu ihrer Hochzeit kamen, weil sie zum evangelischen Glauben konvertiert war. "Also bin ich dann in die Kirche gegangen, ohne Eltern, ohne meine Familie, ohne irgendjemand und habe geheiratet", sagt die 85-Jährige betroffen. In Hardegsen baute sie sich dann aber mit ihrem Mann ein neues Leben auf, unternahm Reisen in die USA und blickt heute auf ein erfülltes Familienleben zurück.
"Bloß nicht auffallen" - der Sohn einer Vertriebenen rebelliert
Auch die Mutter von Andreas Lindemeier muss gegen Ende des Zweiten Weltkriegs aus Breslau nach Hardegsen fliehen. Der 72-Jährige berichtet von Konflikten mit der einheimischen Bevölkerung. Das Credo, das ihm als Kind eingeflößt wird: "Bloß nicht auffallen." Als Jugendlicher hat er genug davon. Er rebelliert, wird Diskjockey in einer Oben-Ohne-Bar, also alles andere als unauffällig. Erst im Nachhinein bemerkt er, dass seine Mutter ihm sein wildes Leben hat durchgehen lassen. "Meine Mutter hatte mit 15 in Breslau im Rundfunkchor gesungen und dann ist das alles weggebrochen", erzählt Lindemeier. In Hardegsen habe sie sich dann anpassen müssen. "Sie hat praktisch ihre Persönlichkeit an der Eingangspforte des Ortes gelassen und hat mir dann das ermöglicht, was sie vielleicht gern in Breslau weitergemacht hätte", vermutet der 72-Jährige.
"Alles andere als leicht" - Lebensleistung nach Flucht würdigen
Andreas Lindemeier hat über das "Digitale Fotomuseum Hardgesen" eine Veranstaltung zu Flucht und Vertreibung organisiert. 110 Besucherinnen und Besucher sind gekommen. Zeitzeugen berichten, darunter auch Erika Jeske. Sie will vermitteln, dass sie zwar ein glückliches Leben hat. Aber dass es am Anfang alles andere als leicht war. Andreas Lindemeier wiederum ist es wichtig, die Lebensleistung dieser Generation zu würdigen. Und er will daran erinnern, dass die kulturellen Konflikte bei Flucht und Vertreibung heute dieselben sind. Egal ob die Betroffenen deutscher Herkunft waren oder aus anderen Ländern kommen.