Duttge: Freispruch für Göttinger Polizisten juristisch fragwürdig
Das Amtsgericht Göttingen hat einen Polizisten vom Vorwurf der Körperverletzung im Amt freigesprochen. Rechtswissenschaftler Gunnar Duttge von der Universität Göttingen hat juristische Zweifel.
Herr Duttge, das Amtsgericht Göttingen hat den Polizisten freigesprochen, obwohl er nach Ansicht des Gerichts zwei rechtswidrige Faustschläge verübt hat. War dieser Freispruch Ihrer Einschätzung nach gerechtfertigt?
Gunnar Duttge: Das lässt sich ohne die schriftliche Urteilsbegründung zu kennen nicht abschließend beurteilen. Ein paar offene Fragen gehen einem aber durch den Kopf. Das Ergebnis ist überraschend, gerade für Juristen. Man hätte entweder erwartet, dass die Botschaft lautet: "Jawoll, das hält sich noch im Rahmen des Polizei- und des Notwehrrechts." Dann ist die Sache klar. Oder aber es ist keine gerechtfertigte Tat, die Grenzen der Notwehr sind überschritten. Dann hätte aus der Außenperspektive natürlich die Verurteilung nahe gelegen. In diesem Urteil wird die individuelle Schuld ausgeschlossen, obwohl eine rechtswidrige Tat angenommen wurde, weil die beiden letzten Faustschläge nicht mehr durch das Recht gedeckt gewesen seien. Das wirkt für mich wie ein erzwungen salomonisches Urteil nach dem Motto "Wir befriedigen damit einfach alle Beteiligten".
Der Richter sagte, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Polizist die Schläge schuldlos beim „Überschreiten der Notwehr“ verübt hat. Können Sie diese Argumentation kurz erläutern?
Duttge: Das Recht kennt in der Tat eine solche Vorschrift, das ist Paragraph 33 des Strafgesetzbuchs. Danach wird die betreffende Person trotz Überschreitens der Grenzen der Notwehr von Strafe verschont, wenn diese Überschreitung der Notwehr aus "Verwirrung, Furcht oder Schrecken" geschehen ist. Gemeint ist damit also eine gravierende psychische Ausnahmelage. Das ist die Basis für dieses Urteil. Aber diese Vorschrift greift wirklich nur dann ein, wenn man sagen kann, aufgrund dieser besonderen Situation und der psychischen Lage war der Betreffende nicht mehr in der Lage, sich im Grunde genommen selbst zu kontrollieren. Es muss also eine panikartige Situation gewesen sein, für die es dann allerdings auch konkrete tatsächliche Anhaltspunkte geben muss.
Nun hat der Polizist ja ausgesagt, er habe sich in Todesangst befunden. Ist diese "Überschreitung der Notwehr" nach Paragraph 33 Strafgesetzbuch von daher nachvollziehbar?
Duttge: Mir ist kein einziger Fall in der jüngsten Vergangenheit bekannt, bei dem man einem Polizeibeamten den Paragraphen 33 zugestanden hätte. Polizeibeamte werden ja in besonderer Weise dafür ausgebildet, dass sie auch mit eskalierten Konfliktsituationen, auch mit körperlichen Auseinandersetzungen, professionell umgehen können. Für mich als Beobachter ist also die selbst zugeschriebene „Todesangst“ nicht ohne Weiteres nachvollziehbar.
Was genau finden Sie denn an dieser Argumentation nicht nachvollziehbar?
Duttge: Wenn man die Urteilsgründe so deutet, wie sie kommuniziert worden sind, dann ist das Amtsgericht Göttingen offenbar von Folgendem ausgegangen: Dass die Faustschläge als solche, sofern sie überhaupt erforderlich waren, nicht das Problem sind. Sondern dass am Ende weitere Faustschläge hinzukamen. Das ist aber eine ganz andere Situation. Da geht es nicht mehr um die Frage: "War das vielleicht zu viel hinsichtlich der Intensität der Notwehr?" Sondern war das sozusagen ein Vergeltungsakt, ohne dass überhaupt noch eine akute Notwehrlage bestand? Wenn man das Urteil so versteht, befand sich der Polizeibeamte bei den letzten beiden Faustschlägen nicht mehr in einer akuten Notsituation. Ob hier der Paragraph 33 Strafgesetzbuch überhaupt anwendbar ist, lässt sich mit guten Gründen bestreiten.
Wie bewerten Sie denn die Urteilsbegründung aus rechtswissenschaftlicher Sicht?
Duttge: Erstaunlich ist zunächst einmal, dass das Amtsgericht glaubt, das Vorliegen einer derartigen psychischen Ausnahmelage ohne einen psychologisch versierten Sachverständigen beurteilen zu können. Es geht hier um die besonderen psychologischen Gegebenheiten in einer „Kampfeslage“ und insbesondere um die Auswirkungen auf die Person eines ausgebildeten Polizeibeamten. Dass man als Jurist auf dem Richterstuhl sitzend glaubt, solche Fragen einfach nach seiner Laienpsychologie beurteilen zu können, finde ich einigermaßen überraschend. Wo wir doch sonst bei Fragen der Schuldfähigkeit standardmäßig einen Sachverständigen benötigen. Ein Sachverständiger hätte hier auch beurteilen können, welche Aussagekraft die Internetvideos haben und wie glaubwürdig das Vorbringen der Verteidigung ist, wenn der Beschuldigte mit weiteren Kollegen in hoher zahlenmäßiger Überlegenheit und mit der Option weiterer Hilfsmittel gegen einen zugegebenermaßen aggressiven Mann am Boden kämpft.
Da hat der Richter ja argumentiert, dass der Polizist in Sekundenbruchteilen handeln musste, was sich hinterher immer sehr leicht vom Schreibtisch aus anders bewerten ließe. Konnte der Polizist denn so klar in der Situation noch entscheiden, wie schätzen Sie das ein?
Duttge: Entscheidend ist letztendlich jener Augenblick, in dem die Faustschläge, vor allem die beiden letzten, getätigt wurden. Dies ist der Tatmoment, in dem sich laut Gericht der Angeklagte in einer panikartigen Ausnahmelage befunden habe. Dass auch ein Polizeibeamter in einer solchen Kampfeslage den Überblick verlieren kann, ist sicher nur allzu menschlich. Auch wenn nach meiner Kenntnis Faustschläge in Serie gegen den Kopf eines anderen nicht zur Polizeiausbildung zählt. Aber man mag bei der Beurteilung dessen, was in jenem Augenblick zur Verteidigung noch notwendig gewesen ist, großzügig sein. Wenn man aber, wie das Gericht, annimmt, dass der Angeklagte die Grenzen der Notwehr überschritten hat, dann kann man diese Bewertung nicht gleichsam wieder rückgängig machen, indem man die zur Verteidigung vorgebrachte Todesangst einfach ohne weitere Fakten übernimmt. Ich möchte daran erinnern, dass Polizeibeamte für solche Auseinandersetzungen ausgebildet werden, und insbesondere dafür, dabei nicht den Kopf zu verlieren.
Die Staatsanwaltschaft Göttingen prüft derzeit, ob sie Revision gegen den Freispruch einlegen wird. Rechnen Sie mit einer weiteren juristischen Aufarbeitung?
Duttge: Wenn ich Vertreter der Staatsanwaltschaft wäre, würde ich prophylaktisch innerhalb einer Woche Revision einlegen und dann innerhalb eines Monats entscheiden, ob ich an dem Urteil etwas konkret auszusetzen habe. Aus wissenschaftlicher Perspektive wäre es sehr wünschenswert, wenn ein Rechtsmittel zur Klärung der angesprochenen Zweifelsfragen eingelegt würde. Ich finde generell, dass von dem Urteil eine fatale Botschaft an die Bevölkerung ausgeht: Wenn sich Polizeibeamte in Todesangst wähnen, können sie im Ergebnis folgenlos über die Stränge schlagen. Dabei haben wir doch, um das zu verhindern und Polizeieinsätze in rechtsstaatlichen Grenzen zu halten, das Polizei- und das Notwehrrecht, die eben solche Grenzen konkret vorgeben. Dass es im aktuellen Fall so beurteilt wurde, könnte daher missverstanden werden als generelle Regel für die Zukunft.
Das Interview führte Wieland Gabcke.