EIne Hand hält ein Smartphone auf dem die TikTok App zu sehen ist. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Sheldon Cooper Foto: Sheldon Cooper

Rassistischer "Ohrwurm" wird zum TikTok-Trend

Stand: 16.01.2024 09:06 Uhr

Ein rassistischer Ohrwurm wird zum TikTok-Trend. Rechte werden offensiver und erreichen Millionen Jugendliche in dem sozialen Netzwerk. Die Polizei rät dazu, Fälle in Niedersachsen zu dokumentieren und anzuzeigen.

von Amelia Wischnewski

Schon bei den ersten markanten Tönen des Popsongs soll eine Gruppe von etwa 15 Partybesuchern angefangen haben zu singen: "Ausländer raus, Ausländer raus". Das berichten Zeugen, die ebenfalls auf einer Weihnachtsfeier im emsländischen Messingen waren, auf der ausländerfeindliche Parolen gesungen worden sein sollen. Ein Video von dem Vorfall ist bislang nicht aufgetaucht. Die Partybesucher sprangen mutmaßlich einem TikTok-Trend auf, der seinen Ursprung im 315-Einwohner-Dorf Bergholz in Mecklenburg-Vorpommern hat. In einem TikTok-Video von dort grölt eine Gruppe Männer, darunter mutmaßlich auch der Sohn des Bürgermeisters: "Ausländer raus, Deutschland den Deutschen, Ausländer raus". Die Zeitung "Katapult MV" aus Mecklenburg-Vorpommern hatte Mitte Oktober darüber berichtet. In beiden Fällen ermittelt nun der Staatsschutz. 

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Rassismus als Jugendtrend

Die rassistische Parole ist nicht der Originaltext des 23 Jahre alten Popsongs "L’amour toujours" von Gigi D’Agostino. Mit dem abgeänderten Text erlebt das Liebeslied derzeit ein Revival unter Jugendlichen als neurechte Hymne. Etliche Partyvideos kursieren mittlerweile aus ganz Deutschland und Österreich auf der Kurzvideo-Plattform TikTok. Dem Landeskriminalamt (LKA) sind Vorfälle seit Ende des Jahres in Niedersachsen "bislang in Einzelfällen bekannt geworden".

"Ich kann dieses Lied nicht mehr hören, ohne daran zu denken"

"TikTok ist eine sehr musikgetriebene Plattform", erklärt Marcus Bösch, Dozent an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg und TikTok-Experte. Der Algorithmus ermögliche, dass auch Videos von unbekannten Nutzern einen Trend auslösen können. In diesem Fall wurde der Hype nach Einschätzung von Bösch durch ein weiteres Video verlängert, das auf das Ursprungsvideo Bezug genommen hatte. Darin habe der Creator gesagt: "Boah, ich kann dieses Lied nicht mehr hören, ohne daran zu denken." Und das sei vielen Leuten so gegangen. Laut Bösch ist TikToks Stärke, Ohrwürmer zu generieren, zunächst kein Grund, das Netzwerk pauschal als gefährlich einzustufen. 

AfD ist beliebteste Partei auf TikTok

Allerdings hat die etablierte Politik TikTok lange Zeit vernachlässigt. Das hat ein Vakuum erzeugt, das die AfD frühzeitig ausgefüllt hat - mit beachtlichem Erfolg. Sechs der zehn beliebtesten deutschen Politikeraccounts darf die AfD mittlerweile für sich beanspruchen. Das hat eine Studie des Hamburger Politikberaters Martin Fuchs ergeben. SPD und Grüne sind in den Top Ten gar nicht vertreten. Die AfD hat das Potenzial erkannt, Jugendliche ohne Filter oder Korrektiv von außen anzusprechen. "Rechte nutzen die Plattform, um abseits von tradierten Medien einen Publikationsort zu haben, der zu Gemeinschaftserlebnissen führt", sagt TikTok-Experte Marcus Bösch. Etwa, wenn dazu aufgefordert wird, "den Kommentarbereich einer missliebigen Content Creatorin zu fluten" oder eben um die eigenen Positionen zu stärken und zu verbreiten. 

Viele unter 20-Jährige nutzen TikTok täglich

Die chinesische Plattform TikTok selbst gibt an, etwa im Falle des Nahost-Konflikts Faktenchecks durchzuführen, mit der EU zusammenarbeiten zu wollen oder aktiv gegen Desinformationen vorzugehen. Lorenz Blumenthal von der Amadeu Antonio Stiftung aber schätzt die aktuelle Lage weniger positiv ein: "Die Plattform ist in den letzten Jahren massiv gewachsen, ohne gleichzeitig bei der Moderation und den Community-Standards mitzuwachsen." Anders gesagt: Problematische Trends können weiterhin florieren. TikTok hat im Herbst vergangenen Jahres erstmals offizielle Nutzerzahlen für Deutschland herausgegeben. Eine Milliarde Menschen weltweit und knapp 21 Millionen - zumeist sehr junge - Deutsche nutzen die App mindestens einmal im Monat. Fast die Hälfte aller Nutzer zwischen zwölf und 19 Jahren konsumieren ihre Inhalte sogar täglich, ergab eine SWR-Umfrage vor zwei Jahren. Diese Zahl dürfte mittlerweile höher sein. 

Warum gab es in Messingen nicht mehr Widerspruch?

Die Amadeu Antonio Stiftung warnt davor, im Messingener Vorfall nur eine "besoffene Geschichte auf einer Weihnachtsfeier" zu sehen. "Warum haben die mutmaßlichen Täter nicht mehr Widerspruch erfahren?", fragt Lorenz Blumenthal. "Es waren 900 Menschen bei der Weihnachtsfeier. Wenn am Ende nur eine Person Anzeige erstattet oder der DJ, sofern er den Vorfall mitbekommt, nicht reagiert, dann ist dies ein Armutszeugnis für unsere Demokratie." Sollte man selbst Zeuge oder Zeugin eines solchen Vorfalls werden, so rät der Sprecher der Polizei Lingen, den Fall anzuzeigen und das Geschehen mit dem Handy zu dokumentieren, um eine Strafverfolgung zu erleichtern. Ob die Partybesucher strafrechtlich belangt werden können, ist noch ungewiss.

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