Pädagogische Mitarbeitende: Lückenbüßer im Lehrkräftemangel?

Stand: 28.02.2024 09:48 Uhr

An Grundschulen in Niedersachsen werden Lücken in der Unterrichtsversorgung offenbar durch pädagogische Mitarbeitende gestopft. Dabei sind sie dafür nicht ausgebildet und deutlich schlechter bezahlt als Lehrer. 

von Natalie Beck

Ihre eigentliche Aufgabe ist, Kinder zu betreuen und im Unterricht zu "begleiten" - rund 8.000 pädagogische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gibt es derzeit an Niedersachsens Grundschulen. Doch Beschäftigte berichten, dass sie auch Aufgaben von Lehrern und Lehrerinnen übernehmen - etwa wenn die krank sind und aus anderen Gründen ersetzt werden müssen. 

"An vielen Schulen fest im Stundenplan eingeplant"

"Wir müssen sicherstellen, dass der Unterricht stattfindet. Das wäre ohne pädagogische Mitarbeiterinnen nicht möglich", sagt Jörg Bratz, Vorsitzender des Verbandes Leitungen Niedersächsischer Grundschulen. "An vielen Schulen werden sie sogar schon im Stundenplan fest mit eingeplant, nicht nur für Vertretungszwecke, sondern von vornherein. Wir reden hier in der Regel von engagierten pädagogischen Mitarbeitern, die aber keine Qualifikation haben für das, was sie da tun."

Weniger Geld, oft befristete Verträge

Regine Kühn vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) bei einer Tagung für pädagogische Mitarbeitende in Lehrte. © NDR
Regine Kühn vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) spricht von prekären Arbeitsbedingungen.

Keine Qualifikation - damit meint Bratz vor allem: kein Lehramtsstudium. Denn wer als pädagogischer Mitarbeitender an Schulen arbeitet, braucht keine besondere Ausbildung. Dafür werden sie auch weit schlechter bezahlt als Lehrerinnen und Lehrer. Viele haben ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis und sind von Altersarmut gefährdet. Regine Kühn vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) fordert bessere Verträge. Von den prekären Arbeitsbedingungen seien vor allem Frauen betroffen, die nach der Erziehung ihrer Kinder keinen Weg zurück in ihren alten Beruf gefunden hätten, sagt sie. 

Gewerkschaften fordern anerkannte Qualifizierung

Der VBE und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordern anerkannte Weiterbildungsmöglichkeiten für pädagogische Mitarbeitende. Bislang gibt es laut VBE in Niedersachsen nur freiwillige Kurse. Die Kursgebühren von bis zu 900 Euro zahlten die Mitarbeitenden in der Regel aus eigener Tasche. Das ist mehr, als die meisten in der geringfügigen Beschäftigung im Monat verdienen. Eine bessere Bezahlung ist aber laut VBE auch nach einem Kurs nicht garantiert. Trotzdem seien die Kurse landesweit stark nachgefragt. "Die allermeisten von ihnen sind sehr, sehr engagiert und würden sich gerne qualifizieren, um dadurch mehr zu verdienen. Das muss ermöglicht werden", sagt Regine Kühn vom VBE.

Immer mehr Verantwortung 

Geschaffen wurde die Rolle der pädagogischen Mitarbeitenden, als das Land Niedersachsen im Jahr 2000 allen Eltern die verlässliche Grundschule versprach. Alle Kinder sollten fortan an jedem Tag mindestens fünf Stunden in der Schule sein. Erst- und Zweitklässler, die täglich nur rund vier Stunden unterrichtet werden, brauchten für den Rest der Zeit eine Betreuung. Seitdem seien die Anforderungen stetig gestiegen, berichten pädagogische Mitarbeitende. 

Praxisferne Definitionen durch das Ministerium? 

Unterricht in Entwicklungspsychologie im Weiterbildungskurs für pädagogische Mitarbeitende an der Volkshochschule in Vechelde. © NDR
Unterricht in Entwicklungspsychologie im Weiterbildungskurs für pädagogische Mitarbeitende an der Kreisvolkshochschule Peine.

Kann das sein - menschlich sicher gut geeignete, aber fachlich unqualifizierte Mitarbeitende, die wenig verdienen, aber für Lehrer einspringen? Das Kultusministerium betont, dass dies nur im bestimmten Rahmen erfolgen darf: Es gehe allein um die Betreuung von Lerngruppen, wenn Schüler und Schülerinnen das Erlernte festigen sollen. Für Praktiker ist das lebensfern. Denn die Grenzen sind fließend: Wo fängt "Unterricht" an, wo hört "Betreuung" auf?

Pädagogische Mitarbeitende berichten von großer Belastung

"Mittlerweile ist es so, dass wir auch unterrichten. Wir arbeiten das Vorbereitete der Lehrer ab und müssen den Kindern den Lehrstoff vermitteln: Wenn Buchstaben eingeführt werden oder in Mathematik Plus, Minus, Mal, Geteilt", sagt Konstanze H. (Name von der Redaktion geändert), die seit 20 Jahren in dem Job ist. Sie möchte anonym bleiben. Denn dass sie teilweise sogar eigenverantwortlich unterrichtet, also selbst bestimmt, was im Unterricht drankommt und wie es vermittelt wird, ist laut Vorgabe des Kultusministeriums nicht erlaubt. "Wenn ich viel eingesetzt werde in den Vertretungsstunden, dann muss ich sagen, geht es mir schlecht", sagt Konstanze H., "und dann denke ich auch, sieh zu, dass du durchhältst, damit die Schule überhaupt noch ein bisschen weiterlaufen kann."

NDR Umfrage: Wie oft kommt das vor? 

Eine Umfrage des NDR an allen Grundschulen in Niedersachsen lässt aufhorchen: Alle 1.700 Grundschulen wurden online befragt. 320 haben geantwortet. Die anonymen Antworten können nicht überprüft werden, aber sie legen den Verdacht nahe, dass es keine Einzelfälle sind. Rund 100 der teilnehmenden Schulleiter geben an, dass ihre pädagogischen Mitarbeitenden eigenständig unterrichten.

Eine pädagogische Mitarbeiterin unterstützt eine Zweitklässlerin bei ihren Aufgaben. © NDR
Die pädagogische Mitarbeiterin Simone Kamradt unterstützt eine Zweitklässlerin an einer Grundschule bei Gifhorn.

Das Kultusministerium weist dies zurück: "Dies deckt sich nicht mit unseren Informationen. Das Kultusministerium ist sicher, dass Schulleitungen pädagogisch Mitarbeitende in richtigem Ermessen adäquat einsetzen." Man gehe davon aus, dass der Begriff "eigenständiger Unterricht" im Rahmen der Umfrage missverstanden wurde.

Grundschulleiterverband: "Das ist unglaublich!"

Der Vertreter der Grundschulleiter, Jörg Bratz, sagte dem NDR Niedersachsen, die Ergebnisse deckten sich mit seinen Eindrücken: "Das ist natürlich auch eine prekäre Situation. Vor dem Hintergrund, dass uns die Bildungsstudien seit Langem schon sagen, dass ungefähr ein Viertel unserer Grundschulkinder in der 4. Klasse nicht anschlussfähig lesen, schreiben und rechnen kann, ist das eigentlich unglaublich!"

Das Kultusministerium verweist darauf, dass es die Schulleitungen ausdrücklich bei der eigenverantwortlichen Einsatzplanung im Rahmen der rechtlichen Vorgaben unterstütze und dass es das Ziel der Landesregierung sei, die Versorgung mit Lehrkräften landesweit nachhaltig zu sichern.


20.02.2024 15:20 Uhr

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes hieß es, dass es derzeit an Niedersachsens Grundschulen rund 16.700 pädagogische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gibt. Diese Zahl bezieht sich allerdings auf alle öffentlichen Allgemeinbildenden Schulen in Niedersachsen. An Grundschulen sind es rund 8.000 pädagogische Mitarbeitende. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen.

 

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Hallo Niedersachsen | 20.02.2024 | 19:30 Uhr

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