Deutschlands Rolle in der Welt - Auftakt zum zweiten Bürgerrat
Politikverdrossenheit und der fehlende Glaube an demokratische Werte sind ein Problem für rechtsstaatliche Systeme. Bürgerräte geben den Menschen die Möglichkeit, sich wirklich zu beteiligen, und stärken die Demokratie.
Im September wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Bei der letzten Wahl vor vier Jahren lag die Wahlbeteiligung bei etwas über 76 Prozent. Doch an Landtags- oder Kommunalwahlen nehmen wesentlich weniger Menschen teil. Was kann man dagegen tun? Auf kommunaler Ebene gibt es in Deutschland schon Mittel der Mitbestimmung wie Bürgerentscheide und Bürgerinitiativen. Vor zwei Jahren hat der Verein "Mehr Demokratie" zum ersten Mal auch einen bundesweiten Bürgerrat organisiert: 160 Menschen aus ganz Deutschland wurden dafür über die Einwohnermeldeämter ausgewählt. Kriterien waren neben Region auch Geschlecht, Alter, Bildungsstand oder Migrationshintergrund.
Bürgerräte beginnen mit der Arbeit
Diese Menschen treffen sich aktuell und diskutieren vier Wochen lang - diesmal unter der Schirmherrschaft von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Das Thema: "Deutschlands Rolle in der Welt". In Kleingruppen sollen zu einzelnen Themen Ideen und Empfehlungen entwickelt werden - auch Expert*innen können dabei zurate gezogen werden. Corona-bedingt findet der Austausch in diesem Jahr in Online-Veranstaltungen statt. Auch vier Norddeutsche sind dabei. Die Hamburgerin Franziska Grau ist eine von ihnen. Die 56-jährige Unternehmerin hat zusammen mit ihrem Mann eine Leuchten-Firma aufgebaut. Mittlerweile haben sie 150 Mitarbeiter*innen. Als sie im November Post vom Verein "Mehr Demokratie" zum Bürgerrat bekam, war sie sofort "Feuer und Flamme": "Ich habe mich gefreut, eine von 80 Millionen Deutschen zu sein, die ausgelost wurde. Ich dachte, da muss ich doch mitmachen."
Mehr Bewusstsein durch Beteiligung
Nach Ansicht von Franziska Grau hat Deutschland vor allem eine Vorbildfunktion in der Welt - mit seinem Rechtsstaat, dem Bewusstsein für Naturschutz und den finanziellen Möglichkeiten zur Entwicklungshilfe. Außerdem ist der Unternehmerin der internationale Handel wichtig. "Ich habe in den letzten Wochen gemerkt, dass ich ein wenig politischer und interessierter geworden bin. Bei vielen Themen habe ich mich gefragt: Wie würdest du darauf eingehen? Und dieses Bewusstsein wurde durch die Beteiligung verursacht." Der Bürgerrat ist ihrer Meinung nach ein gutes Instrument, den Politiker*innen ein Stimmungsbild zu vermitteln.
Deutschland müsse Verantwortung wahrnehmen
Auch Wilfried Scholz, Jahrgang 1960, aus der kleinen Ortschaft Sandbostel in der Nähe von Bremervörde, ist dabei. Deutschland habe eine Vorbildfunktion in der Welt vor allem bei Klimafragen, meint der ehemalige Verkaufsleiter eines großen Discounters: "Wir sind ja auch nicht das kleinste Land, als Wirtschaftsmacht sind wir an vierter Stelle – da haben wir eine gewisse Verantwortung." Der Niedersachse hofft, dass der Bundestag die Empfehlungen des Bürgerrats ernst nehmen wird. Das wäre ein wichtiges Zeichen und würde der Politikverdrossenheit entgegenwirken. Am Vortag hat Wilfried Scholz bei einer Technik-Einweisung schon Kamera und Mikrofon für die Online-Treffen getestet.
Raus der eigenen "Bubble"
Elisabeth Grützmacher ist 17 Jahre alt, kommt aus Neumünster und macht in diesem Jahr Abitur. Die Schülerin hat schon bei einigen "Fridays for Future"-Protesten für mehr Klimaschutz demonstriert. Deutschland sieht sie auch im menschlichen Umgang mit Flüchtlingen als Vorreiter. Sie selbst freut sich vor allem auf den Austausch: "Mir geht es darum, auch ins Nachdenken über andere Dinge zu kommen und nicht nur in meiner Bubble zu bleiben. Ich will die Sichtweisen von anderen in meinen Wissensstand miteinbeziehen." Ihrer Meinung nach fühlen sich viele Bürger*innen oft nicht genug in politische Entscheidungen eingebunden.
Offenheit für andere Meinungen
Der 33-jährige Tobias Liebig wohnt in Mecklenburg-Vorpommern, in Plau am See, und arbeitet als Verwaltungsfachangestellter. Über seine Zusage musste der Familienvater aus Mecklenburg-Vorpommern nicht lange nachdenken. Er wolle sich gerne mit einbringen. Auch für den Bundestag sei es eine große Chance, die Demokratie zu verbessern, wie Tobias Liebig sagt: "Auch ich habe festgestellt, dass unsere Demokratie vielleicht etwas eingerostet ist. Wenn man überlegt, wie viel Entscheidungsbefugnis jeder einzelne Bürger hat, muss man feststellen, dass diese Befugnis nicht besonders groß ist. Und mit der Idee des Bürgerrates nähert man sich dort wieder etwas an." Liebig hat sich vorgenommen, in den insgesamt zehn Gesprächsrunden für andere Meinungen offen zu sein. Als ehemaliger Marine-Wehrdienstleistender hat er besonders die internationale Sicherheit und Zusammenarbeit im Blick. Alle Teilnehmenden bekommen für ihren Einsatz eine Aufwandsentschädigung von 450 Euro.
Empfehlung aus 2019: Bürgerräte als festes Instrument
Beim ersten Treffen im Jahr 2019 debattierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer darüber, wie die Demokratie gestärkt werden kann. Am Ende haben sie 22 Empfehlungen an Bundestagspräsident Schäuble übergeben. Unter anderem empfahlen sie, bundesweite Bürgerräte im politischen Werkzeugkoffer der Bundesrepublik zu verankern. Vielleicht ist nun schon etwas erreicht, weil das Gremium zum zweiten Mal startet. Auf das diesjährige Thema "Deutschlands Rolle in der Welt" haben sich alle Bundestagsfraktionen geeinigt. Dabei sollen Handlungsempfehlungen zu fünf großen Themenkomplexen entstehen: Wirtschaft und Handel, Europäische Union, Frieden und Sicherheit, Demokratie und Rechtsstaat und Nachhaltige Entwicklung.
Empfehlungen müssen auch umgesetzt werden
In diesem Jahr werden die Ergebnisse dann am 19. März dem Bundestag übergeben. Claudine Nierth vom Verein "Mehr Demokratie" erklärt, inwiefern die Arbeit der Bürger dann auch tatsächlich in Entscheidungen mit einfließen kann: "Schon im Vorfeld haben Abgeordnete aller Fraktionen an den Vorbereitungen des Bürgerrates mitgewirkt. Einige Ergebnisse werden vielleicht in dieser Legislaturperiode aufgegriffen, andere könnten sich im nächsten Regierungskoalitionsvertrag wiederfinden." Sie betont aber auch, dass der Erfolg der Bürgerräte maßgeblich davon abhängt, wie viel letztendlich umgesetzt wird. Erst das könne das Vertrauen in ein Instrument wie den Bürgerrat stärken. Die Wähler*innen und die Gewählten könnten sich auf diese Weise näherkommen. In Irland, Frankreich und England gebe es ebenfalls schon Bürgerräte. Deutschland dürfe hier nicht das letzte Land sein, findet Nierth.