Letzter Ausweg: Immer mehr Mädchen wegen Essstörung in Klinik
Rund ein Viertel mehr Patientinnen als vor der Corona-Pandemie kommen in die Spezialklinik für Essstörungen im Landkreis Uelzen. Fast 80 Prozent sind junge Frauen mit Magersucht.
Es ist windig draußen auf dem Gelände der Klinik für Menschen mit Essstörung in Bad Bodenteich. Luna und Clara - wie wir sie nennen - haben sich noch eine Jacke übergezogen. Dass ihr Körper lebensbedrohlich geschwächt ist, ist so auf den ersten Blick nicht zu sehen. "Ich war wöchentlich bei meinem Kinderarzt und der hat mir dann auch immer gesagt, dass es so nicht weitergehen kann. Und dann haben irgendwann alle gesagt, dass es so eine schlechte Wendung annimmt und es besser wäre, sich schon mal anzumelden", sagt die 18-jährige Luna.
Irgendwann ist der Leidensdruck zu groß
Auch die 21-jährige Clara hatte sich ihren Sommer anders vorgestellt. Sie wollte nicht wieder in eine Klinik. Seit acht Wochen ist sie jetzt in Bad Bodenteich. "Es gibt Tage, da sind die Essstörungsgedanken sehr präsent und viele unangenehme Gefühle sind da und dann fällt es mir auch schwerer, mich den Herausforderungen zu stellen", erzählt sie. Dass es so weit kommen musste, hat bei den jungen Frauen unterschiedliche Gründe. Luna fühlt sich schon seit ihrer Kindheit unter Druck gesetzt. Sie soll die Starke sein unter drei Geschwistern: "Das ist so verankert, dass ich Trauer und Wut nicht zulassen wollte." Essstörung - nicht einfach nur, um dünn zu sein, sondern als Schutz und um Emotionen zu bewältigen.
Seit Corona: Ein Drittel mehr Mädchen wegen Essstörung in Klinik
Laut einem Bericht der DAK sind im vergangenen Jahr in Niedersachsen ein Drittel mehr Mädchen wegen einer Essstörung in Kliniken behandelt worden als noch 2019. Viele Patientinnen seien dazu deutlich kränker als vor der Pandemie, sagt Marie-Caroline Hammerer, Chefärztin für Akut-Psychosomatik an der Mediclin Seepark Klinik in Bad Bodenteich. "Die Patienten und Patientinnen haben vor drei oder vier Jahren zwei bis drei Wochen warten müssen, jetzt müssen sie eben deutlich länger warten. Wir haben einen Zuwachs an Anorexie-Patienten von 15 Prozent in der Bevölkerung, gerade junge Frauen." Aktuell werden rund 60 Erwachsene und 40 Kinder unter 17 Jahren behandelt. Wer keinen Platz bekommt, dem empfiehlt Hammerer eine Psychotherapie zu Hause und eine Ernährungsberatung. Auch für die Eltern, deren Kinder sich in einem bedrohlichen Zustand befinden, können Selbsthilfegruppen Rat geben und unterstützen.
Magersucht zählt zu den tödlichsten aller psychischen Krankheiten
Die Pandemie, die soziale Medien: Auch Luna und Clara waren allein mit sich und ihren Problemen. Irgendwann war alles zu viel. Jetzt brauchen sie Therapie und Struktur. Bis zu sechs Mahlzeiten am Tag, 700 Gramm pro Woche zunehmen. Am Anfang wird jeder Teller kontrolliert. Ein betreutes Essen, bei denen die Patienten und Patientinnen das Gericht auswählen und es fertig portioniert auf den Teller bekommen. Innerhalb einer halben Stunde müssen sie aufessen. Einmal in der Woche wird gewogen. "Es gibt Tage, da kann man das ausblenden, aber man darf nicht vergessen, dass wir zwölf Stunden am Tag Therapie machen, da auch jede Mahlzeit Ängste hervorruft", sagt Clara. Vielen ist nicht klar, dass Magersucht eine Krankheit ist, die zum Tod führen kann. Statistiken zeigen, dass fünf bis zehn Prozent der Menschen, die an Magersucht erkranken, sterben.
Patientinnen bleiben oft mehrere Monate
Nur ein Drittel einer Essstörung ist laut Klinik sichtbar, zwei Drittel nicht. In den Therapien und Angeboten sollen weitere Erkrankungen erkannt werden: Oft sind es Depressionen oder Angststörungen. In den ersten Tagen in Bad Bodenteich dürfen Patientinnen und Patienten keinen Sport treiben, manche nicht mal Treppe laufen. Sie sollen einen anderen Fokus bekommen: Kreatives Schreiben, Musik, Kunst. Auch im Leben der beiden Frauen soll die Essstörung nicht mehr so einen großen Raum haben, hofft Luna mit Blick auf ihre Zukunft: "Eigene Träume auch verwirklichen können und dafür wieder Kraft zu haben - und Energie." In der Klinik konnten sich beide in einem professionellen Setting fallen lassen. Jetzt werden sie erst entlassen, wenn sie einen Body-Mass-Index von 18,5 bis 19 haben. Die jungen Frauen hoffen, dass sie das bis zum Ende des Jahres schaffen.