Ganz harte Schule: Immer mehr Referendare am Limit?
Niedersachsen gehen die Lehrer aus, es fehlt am Nachwuchs. Aktuell werden nur noch drei von vier Referendariatsstellen besetzt. Verbände fordern eine zeitnahe Reform.
Die Zahl der Referendare in Niedersachsen sinkt: 4.810 Planstellen für die allgemeinbildenden Lehrämter gibt es hier im Land, besetzt sind aktuell aber nur 3.627 - erneut weniger als in den Vorjahren. Immer wieder beschreiben angehende Lehrkräfte das Referendariat als teils belastende Erfahrung. Von einem "Praxisschock" ist die Rede, von teils 60-Stunden-Wochen, aber auch von zu wenig Wertschätzung für die Lehrerinnen und Lehrer von morgen. "Im Referendariat gibt es auf jeden Fall Reformbedarf", sagt Christoph Rabbow, der Vorsitzende des Philologenverbands Niedersachsen.
"Praxisschock" statt Eingewöhnung
Der Weg ins Klassenzimmer ist lang. Nach Bachelor- und Masterstudium beginnt der 18-monatige Vorbereitungsdienst, der mit dem Staatsexamen endet. Die 26-jährige Tabea Duensing hat das Referendariat fast hinter sich. An der IGS Mühlenberg in Hannover unterrichtet sie Deutsch und Erdkunde. Sie kommt gut zurecht und dennoch: Der Übergang von der Universität zur Praxis stellte auch sie vor Herausforderungen. "Man merkt, dass vieles, was man davor in der Uni gelernt hat, einfach praktisch im realen Schulleben nicht so funktioniert. Das war ziemlich fordernd für mich", sagt Duensing. Das Referendariat wird seit Jahren als stark belastende Phase in der Lehrerausbildung diskutiert. Untersuchungen aus dem Jahr 2012 ergaben, dass das Ausmaß der Erschöpfung von Referendarinnen und Referendaren mit dem von Lehrkräften vergleichbar ist, die bereits seit 20 Jahren im Beruf arbeiten.
60-Stunden-Woche, Prüfungsdruck, Versagensängste
Eine hohe psychosoziale Belastung im Referendariat ist kein neues Phänomen. Forscherinnen der pädagogischen Hochschule Freiburg attestierten bereits 2014 in einer Studie überdurchschnittliche Burnout-Risiken, kognitive Stresssymptome und Gedanken an Berufsaufgabe. Die Erfahrungen von Referendarinnen und Referendaren in Niedersachsen sind sehr unterschiedlich. Maria Schönenberg (Name von der Redaktion geändert) ist angehende Deutsch- und Geschichtslehrerin. Sie will ihre Verbeamtung nicht gefährden und deshalb nur anonymisiert sprechen. "Teilweise war die Situation einfach so aussichtslos", sagt sie, "dass ich nach Hause gekommen bin und wirklich nur geheult habe". Sie berichtet von 60-Stunden-Wochen, von Prüfungsdruck, wie sie bis zwei Uhr nachts an der Vorbereitung ihrer Stunden sitzt - aus Angst vor einer harschen Kritikkultur ihrer Seminarleitung.
Referendar: "Nur schlafen und arbeiten"
"Obwohl ich diesen Beruf unbedingt machen wollte oder machen will, habe ich häufiger überlegt, ob ich an dieser Stelle aufhöre, weil es mir dann einfach zu viel war oder ich nicht wusste, wie ich diese Situationen gut bewältigen kann", sagt Schönenberg. Das Referendariat soll die Universitätsabsolventen fit machen für einen Beruf, in dem laut Deutschen Schulbarometer 79 Prozent der Lehrkräfte auch am Wochenende arbeiten. Jede fünfte sogar nachts. "Es wäre einfacher zu sagen, wie viele Stunden man nicht gearbeitet hat, weil es ist eigentlich nur schlafen und arbeiten", so beschreibt auch der 31-jährige Marian Schmidt seine Erfahrungen im Referendariat. Auch sein Name wurde geändert, auch er befürchtet negative Konsequenzen.
Philologenverband: "Arbeitsbelastung enorm hoch"
Das Studium habe ihm sehr viel Spaß gemacht, sagt Schmidt. Die Zusammenarbeit mit seiner Seminarleitung sei aber nicht einfach gewesen: "Da kommt jemand, der ist an einer Schule, wo alles immer rosig ist, und du bist an einer Schule, wo totales Chaos ist, wo die Kinder kein Deutsch können, kein Frühstück mitkriegen und keine Hefte gekauft bekommen." Die Kritik der Seminarleitung habe ihn oft nicht weitergebracht. Christoph Rabbow kennt die Probleme von Referendaren. Seit 20 Jahren bildet der Vorsitzende des Philologenverbands sie aus: "Die Arbeitsbelastung ist enorm hoch. Es ist alles verdichtet, aber es ist ja noch ein großer Packen dazugekommen: Digitalisierung, Transformation, heterogene Lerngruppen, binnendifferenziert arbeiten und inklusive Beschulung." Das sei einfach zu viel geworden.
Abbruchquote: Laut Schätzung bis zu 15 Prozent
Der Philologenverband schätzt, dass auch deshalb zwischen 10 und 15 Prozent das Referendariat abbrechen. Das Kultusministerium erhebt dazu keine Daten, es schreibt auf NDR Anfrage: Nach seiner Einschätzung sei die Abbrecherquote "äußerst gering". Der Philologenverband und auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordern schon länger eine Reform des Referendariats. "Wir können nicht mehr mit 18 Monaten das leisten, was junge Lehrkräfte brauchen, wenn sie in die Schule gehen müssen. Und deswegen müssen wir eine Verlängerung des Referendariats haben", sagt Rabbow. Von 18 auf 21 Monate, ergänzt um eine Einführungsphase, so die Forderung. Das Kultusministerium hält das nicht für sinnvoll, schreibt dazu: "Eine Verlängerung der Ausbildungsdauer ist zudem nicht im Interesse der angehenden Lehrkräfte oder der Unterrichtsversorgung der Schulen."
Forderung: Mehr Praxis, weniger Prüfungsfokus
Die GEW will vor allem mehr Fokus auf die Praxis in den Schulen und weniger auf die Abschlussprüfungen. Das Kultusministerium schreibt dazu, die Landesregierung habe sich darauf verständigt, unter anderem einen höheren Praxisanteil im Lehramtsstudium umzusetzen: "An der im Koalitionsvertrag festgehaltenen Erhöhung von Praxisanteilen wird derzeit gearbeitet." Grundsätzlich sei festzustellen, dass die Ausbildung der Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst sehr erfolgreich sei.
Kaum Land in Sicht
Der Lehrkräftemangel wird Niedersachsen aber noch lange beschäftigen. Die Unterrichtsversorgung im auslaufenden Schuljahr war mit 96,3 Prozent die niedrigste seit Beginn der Erhebung der Quote vor rund 20 Jahren. Tabea Duensing und Maria Schönenberg haben ihre Staatsprüfung inzwischen bestanden. Nach den Sommerferien werden sie als Lehrerinnen arbeiten. Zwei neue Lehrkräfte von 7.500, die laut GEW aktuell in Niedersachsen fehlen.