Eine junge Frau steht in einem Zimmer am Fenster. © dpa/picture alliance Foto: Peter Steffen

Fehlende Therapieplätze: Lange Wartezeiten belasten Betroffene

Stand: 04.10.2024 10:00 Uhr

Sechs Monate dauert es in Niedersachsen durchschnittlich, einen Therapieplatz zu bekommen. Dabei gibt es genug Therapeuten - nur dürfen viele nicht mit den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen.

von Atiena Abednia

"Das, was mir als Behandlerin immer unheimlich schwerfällt, ist jeden Tag fünf bis zehn Absagen geben zu müssen für Menschen, die wirklich dringend Hilfe benötigen." Das sagt sagt Psychotherapeutin Alexandra Klich aus Lüneburg - eine Stimme von vielen gleich lautenden. Denn der Bedarf ist immens. Der aktuelle Psychoreport der Krankenkasse DAK zeigt, der Arbeitsausfall aufgrund psychischer Erkrankungen hat einen neuen Höchststand erreicht: 2022 wurden pro 100 Versicherte 301 Fehltage registriert, ein Anstieg von 48 Prozent im Vergleich zu vor zehn Jahren.

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Sechs Monate Wartezeit für psychische Hilfe

Besonders die Corona-Pandemie hat die Situation verschärft: Viele Menschen fühlten sich während der Lockdowns isoliert, verängstigt und überfordert. Jetzt werden mehr und mehr die Folgen deutlich. Laut der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen ist die Nachfrage nach psychotherapeutischer Unterstützung in den letzten Jahren stark angestiegen. Für 2030 wird laut einer aktuellen Prognose sogar ein weiterer Zuwachs des Versorgungsbedarfs von etwa 23 Prozent erwartet.

Strukturelle Probleme verstärken die Engpässe

In Niedersachsen müssen Betroffene im Durchschnitt sechs Monate auf einen ambulanten Therapieplatz warten. Ein wesentlicher Grund dafür ist laut Psychotherapeutenkammer die unzureichende Verfügbarkeit sogenannter Kassensitze. Diese Sitze sind notwendig, damit Therapeuten gesetzlich Versicherte behandeln und mit den Krankenkassen abrechnen können. Laut der Bundespsychotherapeutenkammer fehlen bundesweit mindestens 1.600 davon, um die Nachfrage zu decken.

Ein längst überholtes System

Die Anzahl der Kassensitze für Psychotherapeuten in Deutschland ist durch eine Bedarfsplanung von 1999 geregelt. Zuständig dafür ist der Gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten und Krankenkassen. Dieser entscheidet darüber, wie viele Psychotherapeuten sich an welchen Orten niederlassen dürfen und welche Leistungen von den Krankenkassen erstattet werden. Laut Experten ist dieses System aber längst überholt.

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Kapazitäten nicht ausreichend

Zahlreiche Psychotherapeuten in Niedersachsen führen Wartelisten, teilweise sogar mit Wartezeiten von bis zu zwei Jahren. Eine belastende Situation, nicht nur für die Patienten. Manche Therapeuten berichten, sie hätten sogar die Wartelisten abgeschafft: "Wir haben eine enorme Nachfrage, die wir nicht bewältigen können", sagt zum Beispiel Kordula Horstmann, Psychotherapeutin aus Bohmte bei Osnabrück.

Gefahr der Chronifizierung psychischer Erkrankungen

Besonders in ländlichen Gebieten seien die Versorgungsengpässe deutlich spürbar, sagt Horstmann. Dies führe nicht nur zu einem immensen Leidensdruck, sondern könne auch schwerwiegende Folgen für die Patienten nach sich ziehen: "Es besteht die Gefahr, dass sich akute Probleme zu chronischen Störungen entwickeln", erklärt Horstmann. "Die frühzeitige Behandlung ist essenziell, um Langzeitfolgen zu vermeiden."

Betroffene müssen sich woanders Hilfe holen

Patienten, die keinen schnellen Zugang zu einem Therapieplatz finden, sind oft gezwungen, auf andere Unterstützungsangebote wie Selbsthilfegruppen oder Beratungsstellen zurückzugreifen. Wie die 31-jährige Maike Ahrens, die an Depressionen und ADHS erkrankt ist. Auch sie sucht seit etwa einem halben Jahr nach einem Therapieplatz: "Die Wartelisten voll sind, die Praxen haben teilweise hundert Leute darauf." Ahrens ist derzeit arbeitsunfähig, bekommt Unterstützung über eine Frauenberatung und Eingliederungshilfe: "Die Hilfe ist gut, aber sie ersetzt die Therapie nicht", sagt sie.

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Lösung in Sicht?

Um die Situation zu entschärfen, fordern Bundes- und Landespsychotherapeutenkammern eine umfassende Reform der Bedarfsplanung. Es brauche mehr Kassensitze, vor allem in ländlichen Gebieten. Niedersachsens Gesundheitsminister Andreas Philippi (SPD) sagt auf Nachfrage, dass die Verantwortung bei der Bundesregierung liege, man jedoch auch mit den Kassenärztlichen Vereinigungen im Austausch stehe, um das Thema voranzutreiben.

Bund verweist auf Gesetzentwurf

Aus dem Bundesgesundheitsministerium heißt es: Der Gemeinsame Bundesausschuss arbeite kontinuierlich an der Weiterentwicklung der Richtlinien zur besseren Versorgung psychisch kranker Menschen. Das Ministerium verweist zudem auf den Entwurf des sogenannten Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes aus dem April 2024. Dieser sieht eine verbesserte psychotherapeutische Versorgung vor, allerdings nur für Kinder, Jugendliche und vulnerable Gruppen. Erwachsene werden darüber hinaus aber ausgelassen.

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