Gestrandet und zerlegt: Das stille Ende der "Sassnitz" und der "Königslinie"
Die einstmals stolze Eisenbahnfähre "Sassnitz" liegt nun am Strand von Aliaga in der Ägäis und wird von Abwrackern zerpflückt. Es ist das Ende der "Königslinie" und zeigt die Spätfolgen der Privatisierung des Ostsee-Fährverkehrs.
Wie ein gestrandeter Wal mit abgerissenem Kopf liegt das ehemalige Fährschiff "Sassnitz" am Strand von Aliaga in der Ägäis. Seit zwei Monaten verrichten die türkischen Abwracker ihr Werk. Langsam zernagen sie den Schiffskörper. Teile der Brückenausrüstung stehen bereits im Internet zum Verkauf. Das Schicksal der einstmals stolzen Eisenbahnfähre steht symbolhaft für das Ende der "Königslinie", zeigt die Spätfolgen der Privatisierung des Ostsee-Fährverkehrs.
Älteste und kürzeste Verbindung
Seit 1909 verband die "Königslinie" die Stadt Sassnitz und das südschwedische Trelleborg, sogar während der Weltkriege und auch im Kalten Krieg. Mit 100 Kilometern Länge und vier Stunden Überfahrt war es der kürzeste und schnellste Weg zwischen beiden Ländern. Die weißen Schweden-Fähren gehörten zu Rügen wie die Kreidefelsen. Bis heute ist Trelleborg Partnerstadt von Sassnitz.
DDR-Reichsbahn investiert 100 Millionen D-Mark
Am 28. April 2020 verließ die "Sassnitz", das letzte Schiff der Königslinie, für immer seinen Heimathafen. An Bord flossen Tränen, erinnert sich Schiffsmechaniker Karl Broß. Einige Crewmitglieder waren seit Indienststellung des Schiffes im März 1989 dabei. Zwei Jahre zuvor hatte die DDR-Reichsbahn die "Sassnitz" bei Danyard im dänischen Aalborg bestellt. Kosten: 100 Millionen D-Mark. Schon damals steckte der Schiffbau in der Krise. Nach dem Stapellauf musste die Werft in Aalborg dichtmachen. Fertig gebaut wurde die "Sassnitz" schließlich in Frederikshavn. Übergabe und Flaggenwechsel erfolgten im März 1989.
Die DDR-Oberen waren so stolz, dass sie den Rüganern ausnahmsweise einen kleinen Schiffsrundgang erlaubten, natürlich nur im Hafen. Acht Monate später hob sich der unsichtbare Eiserne Vorhang auf der Ostsee. Bis zu vier Fährschiffe pendelten regelmäßig zwischen Sassnitz und Trelleborg. Auch bei den Schweden war der kurze Weg nach Deutschland beliebt, für Kurzreisen und Einkaufstouren.
Schleichender Niedergang
Ende der neunziger Jahr begann der schleichende Niedergang der "Königslinie". Die Frachtraten sanken, auch weil die Anreise per Straße über die staugeplagte B96 zu umständlich ist. Auch der Zug von Berlin nach Sassnitz brauchte immer noch fast fünf Stunden. Von Einstellung bedroht war die Königslinie aber nicht, denn noch gehörte sie der Deutschen Bahn. Routen mit hohen Überschüssen wie die Vogelfluglinie zwischen Puttgarden und Rødbyhavn glichen Verluste schwächerer Linien aus.
Mehdorn macht Kasse, Heuschrecken übernehmen
Kurz vor der Jahrtausendwende übernahm Hartmut Mehdorn das Ruder beim Staatskonzern. Er brauchte Geld für den geplanten Börsengang der Bahn AG, wollte deshalb das einträgliche Fährgeschäft verkaufen. 2007 geht die Privatisierung schließlich über die Bühne. Erlös: 1,56 Milliarden Euro. Die Ostseefährlinien wurden von Kapitalfonds übernommen, sogenannten Heuschrecken. Deren Geschäftsmodell: Filetstücke rauspicken, Verlustbringer weiterverkaufen, Betrieb optimieren und später die eigenen Unternehmensanteile mit Gewinn weiterverkaufen. Die wenig profitable "Königslinie" geriet dabei aufs Abstellgleis. Die beiden verbliebenen Fähren wurden fünf Jahre nach der Privatisierung an die schwedische Stena Line weiterverkauft, immerhin eine traditionsreiche Reederei in Familienbesitz.
Stena Line wickelt ab
Aber die Hoffnungen in Stena erfüllten sich nicht. Die Reederei verkauft 2014 die Fähre "Trelleborg" in den Iran. Nur noch die "Sassnitz" blieb mit ein bis zwei Abfahren täglich auf der Route - zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Der private Nachtzug "Berlin Night Express" fuhr weiter - bis zum Tag des überraschenden Endes der "Königslinie" im April 2020.
Mogelpackung "Neue Königslinie"
Kurz danach zauberte die Landesregierung überraschend die "Neue Königslinie" aus dem Hut. Anschubfinanzierung: 800.000 Euro. Seit September 2020 verbindet ein betagter Katamaran Mukran mit Ystad. Das sei kein Ersatz für die alte "Königslinie", findet Peter Leukroth, Schiffsmechaniker und ehemaliger Betriebsrat von Stena Lines. Dazu ist das Schiff seiner Meinung nach zu anfällig für Wind und Wellen, der Spritverbrauch zu hoch, der Fahrplan zu unregelmäßig. Schwerlasttransporte beziehungsweise Reisezugwagen kann die "Skane Jet" auch nicht transportieren.
Schlechtes Timing
Auch die schwedische Verkehrsbehörde wurde auf dem falschen Fuß erwischt. Im Königreich hatte sich die Zahl der Bahnreisenden innerhalb von zehn Jahren verdoppelt. Noch 2019 gab die schwedische Regierung eine fünf Millionen Euro teure Studie in Auftrag, die neue Nachtzugverbindungen nach Deutschland vorschlagen sollte. Kopfschüttelnd mussten die schwedischen Verkehrsplaner feststellen, dass via Trelleborg und Rügen kein Anschluss mehr besteht. Im kommenden Sommer soll dennoch eine neue Verbindung starten. Die macht allerdings einen großen Bogen um Mecklenburg-Vorpommern. Die Reise geht via Malmö und Flensburg nach Hamburg.
Ende einer Ära
Heute enden die Schienenwege auf Rügen im Hafen von Mukran. Kein Anschluss in Richtung Norden. Die "Sassnitz" war die letzte Eisenbahnfähre, die an den Anleger passte, alle notwendigen Zertifikate besaß. "Die alte Dame war eigentlich noch gut in Schuss", sagt Peter Leukroth. Aber in Pandemie-Zeiten sind gebrauchte Fähren unverkäuflich. Und so landete die "Sassnitz" bei einem türkischen Abwracker. Kaufpreis: 350.000 Euro. Ende Oktober 2020 wurde sie auf dem Schiffsfriedhof Aliaga auf den Strand gesetzt. Damit ist eine Ära unwiderruflich zu Ende, nach 113 Jahren.