Beschimpft, beleidigt, bedroht: Feindbild Journalismus
"Reporter ohne Grenzen" stuft Deutschland zurück. Die Bundesrepublik fällt in der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit von Platz 16 auf 21. Das liegt vor allem an körperlichen Angriffen auf Journalisten. Die sind in MV relativ selten, die Freiheit der Berichterstattung ist dennoch bedroht.
Anfang März dieses Jahres demonstrieren Hunderte Menschen vor dem Greifswalder Rathaus. Sie protestieren gegen die Aufnahme weiterer Asylsuchender. In Redebeiträgen wird Angst um die Sicherheit in der Hansestadt geäußert. Die sei gefährdet durch den Zuzug von Geflüchteten. Grit Wuschek, parteilose Bürgerschaftsabgeordnete, greift nach einem Megafon. Sie dreht sich in Richtung der anwesenden Journalistinnen und Journalisten. Wuschek spricht sie direkt und in vorwurfsvollem Tonfall an: "Ich muss Euch jetzt mal ganz ehrlich fragen: Schämt ihr Euch nicht?"
Vorwurf: "Ihr lügt!"
Pauschalisierend beschwert sich die Politikerin darüber, dass "die" Medien nicht korrekt über vorgehende Demonstrationen berichtet hätten. "Haut ab!" rufen daraufhin einzelne Demonstranten. Und: "Ihr lügt!" Szenen wie diese spielen sich so oder ähnlich in vielen Orten Mecklenburg-Vorpommerns ab. Ob in Schwerin, Wolgast oder Lubmin, ob bei Demos gegen Corona-Maßnahmen, gegen steigende Energiepreise oder gegen Flüchtlingsheime. Immer öfter werden Medienschaffende auf solchen Demonstrationen öffentlich angeprangert. Veranstalter zeigen auf sie, nennen ihre Namen, diskreditieren deren Arbeit.
Fast jede Woche neue Vorfälle
"Wenn man auf einem Marktplatz steht und man hört auf der Demo seinen eigenen Namen hundertfach. Das geht schon nicht spurlos vorbei", sagt Corinna Pfaff vom Deutschen Journalistenverband Mecklenburg-Vorpommern (DJV). Im öffentlichen Anprangern von Medienschaffenden erkennt sie eine Methode: "Es gibt Leute, die das auch gezielt einsetzen, weil sie die Berichterstattung beeinflussen wollen." Es gehe um den Versuch der Einschüchterung.
"Fahndung" über Soziale Medien
Radikale Aktivisten nutzen auch "soziale Medien" wie Telegram-Gruppen. Dort teilen sie gezielt Informationen über Journalisten und Journalisten. Namen, Adressen und Bilder. Patrick Hinz, Chefredakteur des in Greifswald erscheinenden Monatsmagazins "Katapult MV", kennt das aus eigenem Erleben: "Wir werden auf Demos wiedererkannt, Leute fotografieren uns, Leute filmen uns, Leute verfolgen uns. Leute haben unsere Namen auf einmal, sprechen uns an und sagen: 'Hey, das, was Sie da gemacht haben, das finden wir aber blöd.' Deswegen muss man sich jetzt schon dreimal überlegen, ob man geht, mit wem man geht, da braucht man sogar Sicherheitspersonal."
Rufe im Saal: "Lyncht ihn!"
In der aktuellen Ausgabe der DJV-Mitgliederzeitschrift "Kiek an!" berichtet ein Reporter des "Nordkurier" über ein Erlebnis in Waren. Bei einer Podiumsdiskussion sei vom Veranstalter zunächst sinnentstellend aus einem seiner Artikel vorgelesen und dann auf seine Anwesenheit im Saal hingewiesen worden. "Von einigen Teilnehmern waren daraufhin Rufe wie 'Lügenpresse', 'Schmierfink' und in einem Fall auch 'Lyncht ihn!' zu hören", schreibt der Journalist. Im Anschluss an die Veranstaltung habe er weitere Feindseligkeiten erlebt. Mehrere Sicherheitsmitarbeiter hätten konstant bei ihm bleiben müssen, um Eskalationen zu vermeiden.
103 Übergriffe auf Medienschaffende
Das Ausmaß der Aggression zeigen Zahlen von "Reporter ohne Grenzen". Im vergangenen Jahr dokumentierte die Organisation deutschlandweit 103 tätliche Übergriffe auf Medienschaffende. Eine erneute Steigerung gegenüber 2021 mit damals 80 Fällen. In Mecklenburg-Vorpommern ereigneten sich vier Fälle. Im Vergleich zu Sachsen, dem negativen Rekordhalter, mit 24 Fällen klingt das erst einmal nicht so dramatisch. Doch jede einzelne körperliche Attacke auf Reporterinnen und Reporter ist ein Versuch, freie Berichterstattung zu ver- oder behindern.
Dass in Mecklenburg-Vorpommern vergleichsweise wenig Überfälle stattfinden, liegt teilweise auch an Schutzkonzepten der Polizei - sagt Innenminister Christian Pegel (SPD). Die hätten aber Grenzen: "Ich kann eben nicht jedem eine ganze Polizeikolonne mitschicken." Medienschaffenden würde aber angeboten, sich in der Nähe der Polizei aufzuhalten. Der Nachteil: Sie können nicht unmittelbar in das Geschehen eintauchen. Ein echter Nachteil für freien, unabhängigen Journalismus.