Kommentar: Plötzlich Klartext von Olaf Scholz?
Bundeskanzler Olaf Scholz wird häufig und heftig dafür kritisiert, dass er zurückhaltend, oft auch unentschieden auftritt. Zu wenig Führung sei das, wird ihm von Kritikern bescheinigt. Vor Kurzem war in Brandenburg aber ein anderer Scholz zu erleben, einer, der zurückdonnerte, als ihm Kriegstreiberei vorgeworfen wurde.
Wenn die SPD Olaf Scholz als "Klartext-Kanzler" feiert, dann muss etwas passiert sein. Normalerweise tauchen die beiden Worte, also Scholz und Klartext, in einem Satz nicht auf, was daran liegt, dass der Kanzler für seine Kommunikation eine klare Regel hat: Alles was er sagt, soll von jedem, der es hört, so verstanden werden, wie er, also Scholz, es gemeint hat, auch wenn der, der es hört, nicht dabei gewesen ist und den Zusammenhang nicht kennt. Punkt.
Der Kanzler kann auch anders
Aber, und das hat offenbar sowohl die eigene Partei als auch eine große deutsche Boulevard-Zeitung überrascht: Der Kanzler kann auch anders. Beim "Europafest" in Brandenburg fing Scholz an zurückzubrüllen, als er von einigen Gästen ausgebuht und beschimpft wurde. Der Kanzler nannte die Störer "liebe Schreihälse" und Wladimir Putin einen "Kriegstreiber". Ein Wort, das er bisher vermieden hat, obwohl es auf den russischen Präsidenten nun wirklich zutrifft. Scholz wurde richtig laut und die ihn dauerbegleitende Frage, was er eigentlich mit dem meint, was er so sagt, stellte sich plötzlich gar nicht mehr.
Passiert jetzt also das, worauf in Deutschland viele Menschen warten? Zeigt Olaf Scholz, der vermeintliche Scholzomat, jetzt seine andere Seite? Die gibt es durchaus, bisher hat man sie allerdings nur hinter verschlossenen Türen, in sogenannten Hintergrundgesprächen erlebt. Oder war der Klartext-Anfall nur eine Ausnahme, wie man sie in Ansätzen auch schon im Deutschen Bundestag beobachten konnte, wenn etwa der CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz den Kanzler so reizte, dass der verbal zurückschlug?
Robert Habeck steht mehr in der öffentlichen Kritik
Tatsächlich spricht einiges dafür, dass Scholz bereit ist, den "Ich-bin-maximal-vorsichtig"-Modus in seiner Kommunikation zu verlassen. Wer ihn in den vergangenen Wochen traf, erlebte einen anderen Olaf Scholz als im vergangenen Jahr. Das mag damit zu tun haben, dass er allmählich im Kanzleramt angekommen und in seiner neuen Rolle sicherer geworden ist. Das hängt auch damit zusammen, dass sich die öffentliche Kritik im Moment stärker an seinem Vize, Wirtschaftsminister Robert Habeck, abarbeitet.
Vor allem liegt es aber daran, dass Deutschlands Position im Krieg Russlands gegen die Ukraine geklärt ist, dass deren Präsident Selenskyj und Scholz so etwas wie Freunde geworden sind, und dass der Kanzler für seine Politik in diesem Bereich die Anerkennung erhält, die er im vergangenen Jahr so vermisst hatte.
"Ich bin, wie ich bin"
Scholz kann, wie fast alle Menschen, mit Lob besser umgehen als mit Kritik, und er liebt es, wenn Dinge sich so entwickeln, wie er es vorausgesagt hat. Spätestens seit seiner Wahl zum Bundeskanzler 2021 genauso abgelaufen ist, wie Scholz das schon 2018 angekündigt hatte, lässt er sich von seinen Überzeugungen und Verhaltensweisen deshalb schwer abbringen. Das galt bisher leider auch für seine Art der Kommunikation.
Schon im vergangenen Jahr hatten Vertraute in Scholz‘ Umfeld versucht, ihn davon überzeugen, dass er als Bundeskanzler in Kriegszeiten anders sprechen und auftreten müsste, als er bisher getan hatte. Scholz lehnte das immer wieder mit dem Hinweis ab, dass die Menschen ihn schließlich so gewählt hätten, wie er sei und dass er auch anders gar nicht sein könne: "Ich bin wie ich bin", ist ein weiterer Satz, den er in diesem Zusammenhang gern sagt.
Der Bonus des Amtsinhabers ist viel wert
Aber - und das macht Hoffnung: Auch bei Olaf Scholz scheint das Sein das Bewusstsein zu verändern. Er weiß, dass jede Äußerung, die er als Bundeskanzler macht, eine besondere Aufmerksamkeit erfährt, und langsam erkennt er auch, dass darin nicht nur Risiken, sondern auch Chancen liegen. Diese wird er angesichts einer Legislaturperiode, die sich der Hälfte nähert, und angesichts der Bundestagswahl 2025, bei der der Kanzler unbedingt wiedergewählt werden möchte, nutzen wollen.
Dabei wird es auf zwei Dinge ankommen: auf die Kompetenz und die Kommunikation der Kandidaten. Scholz hat seine Defizite im zweiten Bereich, und seine jüngsten Auftritte zeigen, dass das nicht daran liegt, dass er nicht klar reden und durchaus emotional agieren kann, sondern dass er sich das selbst bisher verboten hat. Wenn er daran etwas ändern sollte, wird das für das Image des Bundeskanzlers und seine Aussichten, die SPD bei der nächsten Bundestagswahl wenigstens wieder an die Werte heranzubringen, die sie 2021 erreicht hat, wichtiger sein als irgendwelche neuen Gesetze oder große Pläne.
Auf jeden Fall zeichnet sich ab, dass Olaf Scholz wie seine Vorgängerin und deren Vorgänger einen großen Vorteil hat gegenüber anderen Kandidatinnen und Kandidaten für das Kanzleramt. Der Bonus des Amtsinhabers ist bei jeder Wahl mehrere Prozentpunkte wert. Man muss ihn nur zu nutzen wissen. Und wenn nicht alles täuscht, hat Scholz genau das vor. Was für alle eine Erleichterung wäre: Denn schön ist es nie, einem Politiker zuhören zu müssen, der so redet, dass man sich als Zuhörer fragt, was er eigentlich sagen will.
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