Kommentar: Europa bleibt zu oft unter eigenen Möglichkeiten
Welche Rolle soll Europa künftig auf der weltpolitischen Bühne spielen? Und wo sehen sich die europäischen Staaten in der globalen Machtverteilung? Bundeskanzler Scholz sucht offenbar die Nähe zu den USA, Frankreichs Präsident Macron will augenscheinlich mehr Unabhängigkeit von den Machtblöcken - darum geht es im NDR Info Wochenkommentar.
von Hendrik Brandt, Chefredakteur in der Madsack-Mediengruppe Hannover
Wen muss man eigentlich anrufen, wenn man mit Europa sprechen will? Klar, die Frage, die gern dem US-Diplomaten-Urgestein Henry Kissinger zugeschrieben wird, ist ein bisschen gemein. Europa ist nun einmal kein simples Staatsgebilde, sondern erstmal ein kompliziertes Gebilde aus Staaten.
Europäer machen es sich selbst schwer
Europa ist nicht nur die EU - es ist nicht zuletzt eine Region der Erde, in der es den Menschen im großen Maßstab gesehen meist sehr gut geht und die viel zu bieten hat. An Wissen, an historischer, weiß Gott leidvoller Erfahrung - und an Geld wie Wirtschaftsmacht ohnehin. Jedenfalls noch. Dieses Europa könnte mitspielen im neuen Kreis der Großen, könnte mit China, den USA oder Indien gleichberechtigt am Tisch sitzen. Könnte. Stattdessen haben wir in dieser Woche wieder erlebt, wie schwer es sich die Europäer untereinander machen und dass für die Großen in der Welt im Grunde nur eines berechenbar bleibt: Europas Schwäche.
Keine klare "China-Strategie"
Das gilt beim Blick nach Osten wie nach Westen. Da fährt der französische Präsident Emmanuel Macron nach China; die Präsidentin der EU-Kommission darf - immerhin - im Linienflieger hinterher kommen. Ursula von der Leyen sagt: Angesichts der russischen Aggression in der Ukraine müssen wir die richtigen Lehren ziehen und uns von totalitären Staaten unabhängiger machen. Macron findet das im Grundsatz natürlich auch richtig - lässt aber in Peking flugs einen Schwung Wirtschaftsabkommen unterzeichnen und erklärt auf dem Rückflug sinngemäß, dass man eine denkbare Einmischung in den Konflikt um Taiwan im Zweifel lieber anderen überlassen solle. "Hurra!" rufen da schnell manche deutsche Sozialdemokraten; Fraktionschef Rolf Mützenich erklärt sogar, es sei doch völlig richtig, dass man in China nicht immer "mit großer Absolutheit" auftreten müsse. Lieber mal raushalten. Das wird die deutsche Außenministerin, die wenig später nach Peking aufgebrochen ist, sicher begeistert haben. Von einer abgestimmten, womöglich klugen "China-Strategie", die sich die Bundesregierung vorgenommen hat, ist wenig zu sehen - von einer konsistenten europäischen Haltung angesichts der Diktatur im fernen Osten gleich gar nichts.
Kompliziertes Verhältnis auch zu den USA
Beim Blick nach Westen, im Verhältnis zu den USA, zeigen sich ähnliche Seltsamkeiten. Während völlig klar ist, dass die europäischen Bemühungen zum Schutz der Ukraine ohne die Amerikaner weitgehend hilf- und sinnlos wären und vor allem die Deutschen immer gern mit einer Rückversicherung in Washington arbeiten, sagt Macron: "Unsere Priorität ist es nicht, uns in allen Regionen der Welt an die Agenda anderer anzupassen." Da kann man froh sein, dass in Washington der altersmilde Europafreund Joe Biden regiert und nicht Donald Trump und seine schlichten Weggefährten. Macron hat hier überzogen und die europäische Position in der Welt auch aus innenpolitischen Gründen weiter vernebelt. Nicht zuletzt die Diktatoren der Welt wird’s freuen.
Macron vermisst einen glaubwürdigen Aufbruch Europas
Dennoch - die große Empörungswelle, die in den vergangenen Tagen über den Franzosen hereingebrochen ist, wirkt zu Teilen seltsam billig. Die wohlfeile Distanzierung aus Brüssel etwa übergeht kurzerhand, dass der Präsident nun zum wiederholten Mal angesprochen hat, wie sehr er eine strategische Option, einen glaubwürdigen Aufbruch Europas vermisst. Und was zu tun wäre, damit sich der Kontinent endlich seiner Kraft angemessen in der Weltpolitik präsentiert und verhält. Macron hat schon 2017 in der Pariser Sorbonne sein Europabild kraftvoll ausgemalt und wird nicht müde, es immer wieder zu zeigen. Europa sollte sich seiner Vorstellung nach grundlegend neu besinnen und organisieren und endlich mehr erkennen lassen, als einen kleinsten gemeinsamem Nenner. Im Zweifel sollten die Starken dabei vorangehen. Die Basis dafür sieht er im Rückgriff auf die besonderen kulturellen Werte in unseren Breiten: "Was Europa darstellt", so hat es der Präsident formuliert, "können wir nicht blind übertragen, weder auf die andere Seite des Atlantiks noch auf die Grenzen zu Asien. Es liegt an uns, es zu verteidigen, und es in der Globalisierung aufzubauen."
Fehlt dem deutschen Kanzler eine Idee oder sogar eine Vision?
Sieht man Macrons aktuelle Äußerungen in diesem Licht wird klar: Hinter der vordergründigen Taktik steckt bei allen Fehlern zumindest eine strategische Idee. Sie greift über das Nachrichten-Pingpong mit aus dem Zusammenhang extrahierten Halbsätzen hinaus. Manche nennen so etwas auch eine Vision. Traditionell ist dafür etwa in der deutschen Politik von Helmut Schmidt über Angela Merkel bis zu Olaf Scholz allerdings kein Platz. Auch deshalb bleibt Europa in der sich gerade machtvoll neu ausrichtenden Welt immer öfter unter seinen Möglichkeiten. Und wird politisch wie wirtschaftlich nach hinten durchgereicht. Da ist eine gemeinsame Telefonnummer irgendwann das kleinste Problem.
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