Kommentar: Die Risiken des EU-Lieferkettengesetzes
Das EU-Parlament hat in der vergangenen Woche ein verschärftes Lieferkettengesetz beschlossen. Produzenten sind demnach dafür verantwortlich, dass die Zulieferer unter fairen Bedingungen produzieren lassen. Wie stehen die Chancen, dass die Vorgaben aus dem Gesetz eingehalten werden?
Ein Kommentar von Heike Göbel, "Frankfurter Allgemeine Zeitung"
Im Windschatten von Putins Krieg, Energiekrise und Klima-Transformation hat das Europäische Parlament ein Vorhaben vorangetrieben, das inzwischen aus der Zeit gefallen wirkt. Die Abgeordneten stimmten letzten Donnerstag mehrheitlich für einen Kompromiss zum Europäischen Lieferkettengesetz, das die EU-Kommission noch kurz vor Russlands Überfall auf die Ukraine auf den Weg gebracht hatte. Wie stets aus bester moralischer Absicht und überehrgeizig.
EU-Gesetz weitreichender als deutsche Regelungen
Ziel ist es, in der EU ansässige Unternehmen kräftig in die Pflicht zu nehmen, weltweit gegen Menschenrechtsverletzungen, Ausbeutung und Umweltverschmutzung zu kämpfen. Als Hebel dient die Lieferkette. Künftig dürfen EU-Unternehmen nur noch Lieferanten oder Vertriebspartner nutzen, die komplett "sauber" produzieren - also bestimmte, von der EU geforderte soziale und grüne Mindeststandards einhalten, bis ins letzte Glied der Kette. Wer seine Geschäftspartner und deren Partner nicht sorgfältig überprüft und Probleme abstellt, haftet und muss mit Bußen und Schadenersatzforderungen rechnen.
Geht es nach dem Willen des EU-Parlaments, soll das Gesetz schon für kleinere Mittelständler ab 250 Mitarbeitern und 40 Millionen Euro Umsatz gelten und Finanzdienstleister einbeziehen. Es greift damit weit über das deutsche Lieferkettengesetz hinaus, das seit Jahresbeginn gilt und vielen betroffenen Unternehmen große Schwierigkeiten macht.
Lieferketten noch immer gestört
In Rede steht also ein noch schärferes Gesetz, das europäische Unternehmen in höchst unsicherer Zeit erheblich zusätzlich belasten wird: durch die Kosten für ein umfangreiches Berichtswesen und den etwaigen Umbau ihrer Lieferketten, die leicht zigtausend Posten umfassen.
Viele Firmen kämpfen derzeit aber schon mit multiplen Problemen. Die Verluste der Pandemie sind nicht überall überwunden, die Lieferketten teils noch gestört. Inflation, höhere Energiekosten und Fachkräftemangel kommen erschwerend dazu. Es gilt, digitale Rückstände aufzuholen und Geschäft und Produktion schnellstens den scharfen EU-Klimazielen anzupassen. Als wäre diese Gemengelage wirtschaftlich nicht bedrohlich genug, verschärft sich der Systemwettbewerb des Westens mit Chinas Autokratie.
Kommt die Zustimmung des EU-Ministerrats?
Viele EU-Regierungen schnüren daher weitere Entlastungspakete und planen Subventionen, um die heimischen Unternehmen zu schützen - und sie daran zu hindern, in die USA abzuwandern. Dort winken Milliardenzuschüsse für grüne Industrie. Die Europäische Kommission arbeitet deshalb ebenfalls an neuen Hilfsfonds, um im Subventionswettlauf nicht zu verlieren und Europa vor dem weiteren ökonomischen Abstieg zu bewahren.
Vor diesem Hintergrund wirkt es absurd, europäischen Unternehmen per Lieferkettengesetz weitere Steine in den Weg zu rollen, statt das Vorhaben endlich abzublasen oder mindestens fünf Jahre auf Eis zu legen. Die Chance dafür besteht zum Glück immer noch, denn das Gesetz braucht auch die Zustimmung des EU-Ministerrats. Der sollte sich jetzt genau anschauen, warum die Wirtschaftsverbände Sturm laufen und welche Erfahrungen einzelne Länder mit derartigen Gesetzen schon gemacht haben.
Rückzug aus Afrika bereits angekündigt
So weist der bekannte österreichische Handelsökonom Gabriel Felbermayr auf Studien zum französischen Lieferkettengesetz hin. Sie ergaben, dass sich nach Einführung der "Sorgfaltspflichten", wie es beschönigend heißt, der französische Handel mit Ländern verringert hat, in denen die Lage besonders schwierig ist. Die Importe würden auf "sichere" Länder umgelenkt, zugleich konzentrierten sich die Importeure auf wenige, dafür größere Zulieferer.
Es passiert also genau das Gegenteil dessen, was die gutmeinenden Befürworter bezwecken wollen: Statt die Standards und die wirtschaftliche Lage in Entwicklungs- und Schwellenländern zu verbessern, kappen EU-Unternehmen sicherheitshalber die Bande, um Haftungsrisiken zu senken. So hat auch der Baukonzern Strabag den Rückzug aus Afrika angekündigt als Reaktion auf das deutsche Lieferkettengesetz. Damit überlässt man China das Feld, für Menschenrechte und Umwelt ist nichts gewonnen.
Lieferketten breiter aufstellen, um Ausfallrisiken zu senken
Eine wichtige Lehre aus der Pandemie und Putins Krieg lautet, Lieferketten breiter aufzustellen, um Ausfallrisiken zu senken. Strafbewehrte Lieferkettengesetze bewirken auch hier offensichtlich das Gegenteil. Die Unternehmen verhielten sich dabei nur rational, denn eine vollständige Überwachung ausländischer Lieferanten und deren Zulieferer sei schlicht unmöglich, urteilt Felbermayr.
Will die EU trotzdem nicht von dem Gesetz lassen, sollte sie ernsthaft einen anderen Ansatz verfolgen, der Unternehmen das Einhalten der Vorgaben drastisch vereinfachen könnte. So hat der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium vorgeschlagen, Listen sicherer Länder zu erstellen und zusätzlich Negativlisten von Unternehmen, die in der Vergangenheit schon aufgefallen sind. Diese Idee verfolgt die EU bisher bloß halbherzig. Aber mit einem Gesetz, das der EU-Wirtschaft schadet, wird sie auch ihre moralischen Ziele nicht erreichen.
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