Welcome to Notunterkunft: Wie Geflüchtete verwaltet werden

Stand: 05.03.2023 18:00 Uhr

Im vergangenen Jahr haben Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg etwa so vielen Menschen Schutz geboten wie in den Jahren 2015 und 2016 zusammen.

von David Hohndorf, Carolin Fromm, NDR.de

Täglich kommen einige Hundert Geflüchtete in ihren aufnehmenden Gemeinden an, von denen viele händeringend neue Unterkünfte suchen. Wer sind die Menschen, die Geflüchtete unterbringen? Und wie fühlen sich die Ankommenden dabei? Für die 45 Min-Reportage "Flucht-Winter" hat der NDR Geflüchtete, Ehrenamtliche und Verwalter begleitet.

Ein letztes Bett nahe Bad Oldesloe

Der syrische Kurde Agid Abdo spricht mit Flüchtlingskoordinator Christian Vollpott. © NDR
Flüchtlingskoordinator Christian Vollpott (l.) begrüßt jeden ankommenden Geflüchteten im Amt Bad Oldesloe-Land.

Christian Vollpott schmeißt die blaue Bettdecke auf den Boden. Er nimmt die Matratze vom eisernen Bettgestell. Beides trägt er aus dem Zimmer raus, die Treppe runter und stopft es in den Kofferraum seines Wagens. Bald wird er neues Bettzeug herbringen. "Das ist das letzte freie Bett, das wir noch haben", sagt der Flüchtlingskoordinator des Amtes Bad Oldesloe-Land. Er läuft wieder hoch, stellt eine Supermarkt-Tüte mit Putzmitteln auf den dreckigen Glastisch im Raum. "Putzen schaff ich nicht auch noch selbst", sagt er. Das muss der Neue dann selbst machen.

Es ist Mitte Dezember 2022. In knapp vier Wochen soll in dieses Zimmer, in die Dreizimmer-WG, ein Syrer einziehen. Vollpott betreut 89 Menschen in 17 öffentlichen Unterkünften in den Dörfern um Bad Oldesloe. "Ich habe in den letzten drei Wochen 18 Personen aufgenommen. Das ist zu viel. Da komme ich nicht mehr mit auf die Reise - denn ich will ja den Kontakt zu den Menschen dabei nicht verlieren. Das ist ja eigentlich das, um was es geht."

Mzevinar Verulidze steht vor der Turnhalle im Luisenweg in Hamburg. © NDR Foto: Carolin Fromm
AUDIO: Aus der Ukraine geflohen - von der Bürokratie getrennt (4 Min)

Aslysuchende müssen in öffentlicher Unterkunft leben

Jeden Tag ziehen mehrere Hundert Asylsuchende und Geflüchtete in Norddeutschland irgendwo ein und aus. Zuständig dafür sind die Städte und Gemeinden. Mitarbeitende wie Vollpott suchen Wohnungen, richten sie ein, planen Containercamps und entscheiden, wer wo wohnen soll. Denn jeder, der in Deutschland einen Asylantrag stellt, muss solange in öffentlicher Unterbringung leben, bis über seinen Antrag entschieden ist.

Auch Ukrainerinnen und Ukrainer leben zwar in solchen Unterkünften, aber nur, wenn sie keinen privaten Wohnraum finden oder zahlen können. Sie sind im Gegensatz zu Schutzsuchenden anderer Nationalitäten nicht dazu verpflichtet, dort zu wohnen, wo man sie hinschickt. Daher wohnen laut einer aktuellen Studie drei von vier Ukrainerinnen und Ukrainern in Deutschland bereits in privaten Wohnungen.

Die Masssenzustrom-Richtlinie der EU

Am 3. März 2022 hat die EU erstmals die Massenzustrom-Richtlinie in Kraft gesetzt. Dank ihr erhalten Ukrainerinnen und Ukrainer einen humanitären Aufenthaltstitel, ohne dass sie zuvor ein Asylverfahren durchlaufen müssen. Sie dürfen direkt Sprachkurse besuchen, arbeiten und bekommen Bürgergeld. Zudem dürfen sie wohnen, wo sie wollen - solange sie privat unterkommen. Benötigen sie eine öffentliche Unterkunft, werden sie wie andere Asylsuchende auf die Bundesländer verteilt und Unterkünften zugewiesen. Dort können sie aber jederzeit ausziehen.

Migrationsforscherin: Flucht als langfristiges Thema akzeptieren

Im Januar leben im Ankunftszentrum im niedersächsischen Bramsche mehr als 1.600 Nicht-Ukrainer - obwohl dort nur für die Hälfte der Menschen Platz wäre. Sie schlafen in der Turnhalle, der ehemaligen Schule, in Büros. In Norderstedt wohnen 120 Menschen in einer maroden Schule, die längst abgerissen sein sollte. Mecklenburg-Vorpommerns Erstaufnahmen sind zum Ende des vergangenen Jahres vollgelaufen.

All das, obwohl die von einigen Experten erwartete große Fluchtbewegung aus der Ukraine diesen Winter ausbleibt. Und so haben sich die täglichen Ankunftszahlen in Hamburg laut Sozialbehörde von Dezember 2022 bis jetzt auch halbiert. Eine Turnhalle, in der im Januar noch 100 ukrainische Frauen, Männer und Kinder Kopf an Kopf schliefen, kann nun geräumt werden. Doch was sich nach Entlastung anhört, ist noch keine. Der Stadtstaat geht davon aus, dass er in diesem Jahr 10.000 weitere Plätze aufbauen muss, damit niemand obdachlos wird.

Migrationsforscherin Ramona Rischke vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) wünscht sich von Gemeinden, Städten, Ländern und Bund, dass diese nicht mehr nur reagieren: "Ich glaube tatsächlich, dass ein Schlüssel darin liegen könnte, diese Langfristigkeit von Flucht als Thema zu akzeptieren. Weil das eben erlauben würde, von diesem Krisenmodus wegzukommen."

Doch noch ein Bett belegt

Mitte Januar: Der Syrer für Vollpotts letztes Bett soll ankommen. Eigentlich ist es gar nicht mehr das allerletzte Bett. Denn Vollpott hat entschieden, auch noch einen Afghanen aufzunehmen. Dafür muss eine siebenköpfige Familie ein Zimmer in ihrer Wohnung frei machen. Küche und Bad teilen sie sich. "Wir wollen an sich keine Familie mit zu vielen Personen mischen. Aber alle Verwaltungen im Kreis Stormarn sind voll", erklärt Vollpott. Wenn er also noch irgendwo ein Bett vergeben könne, bei dem alle Bewohnerinnen und Bewohner Rückzugsbereiche behalten, dann belege er das jetzt doch.

Ankunft in der Gemeinde

Seit morgens um 10 Uhr wartet Vollpott auf den Neuankömmling. Nach dem Mittag läuft Agid Abdo die Straße zur Behörde runter. Auf dem Rücken einen schwarzen Rucksack, in den Händen zwei Einkaufstüten mit seinen Sachen. "Hey, I'am Christian. I'm here for your flat, for your room", begrüßt Vollpott den Syrer. Der kurdische Journalist kam mit dem Zug aus Rendsburg, war schon in der Ausländerbehörde des Kreises. Die hat ihn zu Vollpott geschickt.

Gegessen hat der 31-Jährige heute noch nichts, er ist müde. "Ich bin 2019 aus Syrien weggegangen. Im Irak habe ich versucht, einen sicheren Weg zu finden. Ich bin dann über Algerien mit dem Boot nach Spanien gefahren", erzählt er auf arabisch. Nun lebt er seit drei Monaten in Schleswig-Holsteins Erstaufnahmen.

Pandemie hatte Fluchtbewegung gestoppt

Während der Corona-Pandemie seien viele Grenzen verschlossen worden, erklärt Migrationsforscherin Rischke. Seit dem Ende vieler Maßnahmen im vergangenen Jahr erreichen daher wieder mehr Flüchtende auch Deutschland. "Jetzt werden einige Migrations-Bemühungen umgesetzt, die eben aufgrund der Corona-Beschränkungen so nicht stattgefunden haben. Es ist allerdings unklar, wie viel eine gewisse Aufhol-Migration ist, weil sie nicht stattfinden konnte - oder neue Trends."

Neue Trends, das sind Entwicklungen in Ländern, die neue Fluchtbewegungen auslösen: wegen der Proteste im Iran oder wegen des Erdbebens in Syrien und der Türkei. Schließe man Grenzen, wie während der Pandemie, führe das dazu, dass die Wege der Flüchtenden länger dauerten und gefährlicher würden, erklärt Rischke.

Abdo: Ich würde lieber bei meiner Schwester wohnen

Vollpott überreicht Abdo einen leeren Aktenordner. Als Geschenk - für die Papiere der kommenden Jahre. "Sie sind ja nicht ganz freiwillig hier. Sondern mit Zuweisung, weil Schleswig-Holstein gesagt hat, Sie müssen jetzt bei uns wohnen", erläutert Vollpott. Ein Übersetzer der Diakonie begleitet jede Ankunft in der Gemeinde und wiederholt auf arabisch.

Lieber würde er bei seiner Schwester im Westen von Hamburg leben, antwortet Abdo. "Ich bin jetzt zwar in Schleswig-Holstein, aber im Osten von Hamburg. Ziemlich weit weg. Meine Schwester könnte mir im Alltag helfen, mit der Sprache, mit Bus und Bahn und der Integration in Deutschland." Zwölf weitere Personen werden wie Abdo heute im Kreis Stormarn aufgenommen. Fünf von ihnen haben angegeben, Verwandte oder Bekannte im Norden zu haben.

Ministerin Faeser will Wohnsitzauflage nicht abschaffen

Wie kann man die öffentlichen Unterkünfte entlasten? Migrationsforscherin Rischke und ihr Team forschen nach Alternativen zur öffentlichen Unterbringung. Hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer wurden und werden privat aufgenommen. Rischkes Befragungen zeigen: Vier von fünf Gastgeberinnen und Gastgebern würden erneut jemanden aufnehmen - auch Menschen anderer Nationalitäten. "Wir glauben, dass die Privatunterbringung von Geflüchteten auch das Potenzial hat, langfristig Teil der Lösung zu sein für bestimmte Gruppen von Geflüchteten. Über Ukrainer*innen hinaus."

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) will Asylsuchenden derzeit allerdings nicht erlauben, privat zu wohnen. Sie wolle die sogenannte Wohnsitzauflage nicht abschaffen, sagte sie dem NDR. "Man kann aber Vereinbarungen zwischen Ausländerbehörden untereinander, aber auch zwischen Bundesländern treffen, dass man das aufhebt, damit es zu einer anderen Verteilung dann kommt." In der Praxis kann das Monate dauern - oder abgelehnt werden.

Flüchtlingsbetreuung: Jede Gemeinde macht es anders

Jede Gemeinde kann selbst entscheiden, wie sie Geflüchtete betreut. Mancherorts beschafft das Ordnungsamt nur Wohnraum; betreut werden die Geflüchteten allein durch Ehrenamtliche. Andernorts, wie in Bad Oldesloe, gibt es Verträge mit Wohlfahrtsverbänden, die bei Beratung und Integration helfen. In Hamburg ist im Herbst 2015 eine eigene Einheit entstanden, die geeignete Unterkünfte sucht. Dadurch läuft heute vieles geordneter.

In kleinen Gemeinden machen oft einzelne Personen den Unterschied. Flüchtlingskoordinator Vollpott hat mittlerweile für April noch zwei neue Wohnungen und ein Haus anmieten können. Bald kann er also wieder Neuankömmlinge aufnehmen. Zudem soll er bald eine Kollegin bekommen. Das würde ihm mehr Zeit für die Begleitung und Integration der Menschen verschaffen.

Ankommen im neuen Zuhause

Der syrische Kurde Agid Abdo guckt aus dem Fenster seines Zimmers. © NDR
Agid Abdo muss in seiner neuen Heimat im Norden erst noch ankommen.

Mit Agid Abdo fährt Vollpott raus aus Bad Oldesloe. Vorbei an Wiesen und Feldern, durch das kleine Grabau, weiter an den See. Dort rauscht noch das Wasser an der ehemaligen Mühle vorbei, die nun Abdos neues Zuhause sein wird. "No market?", fragt er etwas ungläubig, nachdem er den Ort auf seinem Handy gesucht hat. Zehn Minuten sind es mit dem Auto zum nächsten Supermarkt. Aber ein Auto hat kein Geflüchteter in der Mühle. Sie laufen mehr als einen Kilometer zum Bus, fahren dann in die Stadt zum einkaufen. Nur dort gibt es Sprachkurse, Schulen, Arbeit.

Abdo läuft zum Fenster seines Raumes, schaut in die Tasche mit Putzmitteln, rümpft die Nase. Es riecht, die weißen Wände sind voller Flecken. "Das Haus ist schön und teilweise sauber", sagt er und lacht dabei wie über einen Witz. "Aber es liegt ein bisschen weit weg von der Stadt und dem Dorf. Und die Verkehrsmittel: Das ist ja hier auch ein bisschen schwierig", sagt er und schaut hinter die Uhr, die an der Wand hängt. Sie ist stehen geblieben.

 

Weitere Informationen
Joachim Stamp, Sonderbevollmächtigter der Bundesregierung für Migrationsabkommen, Nancy Faeser (SPD), Bundesministerin für Inneres und Heimat, Andy Grote (SPD), Innensenator von Hamburg, Peter Beuth (CDU), Innenminster von Hessen, und Reinhard Sager, Präsident des Deutschen Landkreistages, geben eine Pressekonferenz nach dem Flüchtlingsgipfel. © Kay Nietfeld/dpa

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Dieses Thema im Programm:

NDR Story | 06.03.2023 | 22:00 Uhr

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