Kommentar zum Ende der Corona-Maßnahmen: Politik war verantwortlich
Wenn die Erleichterung über eine endemische Lage da ist, verzeihen sich Politiker auf einmal ziemlich viel, meint NDR Info Wissenschaftsredakteurin Korinna Hennig. Doch die Wissenschaft für Fehlentscheidungen in der Corona-Pandemie verantwortlich zu machen, sei falsch.
Egal wie man den damaligen Satz von Jens Spahn bewerten mag, dass wir einander noch viel verzeihen werden müssen - einige Politiker verzeihen sich selbst im Rückblick auf die Pandemie gerade ein bisschen zu wohlfeil. Dazu gehört zum Beispiel der aktuelle Bundesgesundheitsminister, wenn er im Zusammenhang mit den Schulschließungen davon spricht, die Wissenschaft sei "nicht gut genug" gewesen. Auch wenn Karl Lauterbach sich selbst in diese kritische Rückbetrachtung ausdrücklich mit einbezieht: Er kennt die Dynamiken solcher Aussagen sehr gut und sollte wissen, wie manche Medien sie aufgreifen und eine marktschreierische Anklage gegen Einzelpersonen daraus machen. Und vor allem: Es stimmt so einfach nicht.
Die Wissenschaft hat geliefert
Erstens muss man jede wissenschaftliche Erkenntnis im zeitlichen Zusammenhang betrachten. Man wusste nicht von Anfang an alles über das Coronavirus, auch nicht, was seine Wirkung auf Kinder angeht. Und das Virus selbst hat sich dann im Laufe der Pandemie ja auch verändert.
Zweitens besteht "die Wissenschaft" nicht allein aus der Virologie, sondern eben auch aus der Bildungsforschung, der Sozialpsychologie, der Medizinsoziologie. Und da hat es durchaus Vertreter gegeben, die rechtzeitig eine differenzierte Bewertung der Lage abgeliefert haben. Es war also nicht "die Wissenschaft", die nicht gut genug war, sondern die Politik, die aus diesen verschiedenen Perspektiven vielleicht nicht die richtigen Schlüsse gezogen hat.
Schuldebatte wurde politisch entschieden
Und übrigens verengt diese zum hundertsten Mal geführte Debatte um "Schulen auf versus Schulen zu" den Blick auf sehr ungesunde Weise, was die Lehren für die Zukunft angeht. Wissenschaftler verschiedener Disziplinen hatten nach der ersten Welle eben nicht dafür plädiert, die Schulen einfach pauschal auf- oder zuzumachen, sondern Konzepte vorgelegt, wie man offene Schulen sicherer machen könnte. Stichwort: Kohortentrennung, Teststrategien, Luftfilter, Unterstützung der Familien. Dieser Aspekt geht ein ums andere Mal unter.
Denn zum Kindeswohl gehört auch der Infektionsschutz. Ja, Kinder haben ein deutlich geringeres Erkrankungsrisiko als Erwachsene, aber es ist eben dennoch nicht so, dass alle eine Corona-Infektion symptomlos wegstecken. Auch Kinder hatten und haben ein Recht darauf, vor den teilweise noch immer nicht gut erforschten Auswirkungen eines neuen Virus geschützt zu werden. Und was ist im Übrigen mit den Lehrkräften? Infektionsschutz ist mittelbar auch Schutz des Rechts auf Bildung, das haben spätestens die vielfachen allgemeinen und individuellen Unterrichtsausfälle durch die RSV- und Influenza-Welle im vergangenen Herbst gezeigt. Auch bei der Bekämpfung bereits bekannter Viren gibt es also noch einiges zu tun.
Würden auch Kinder prioritär geschützt werden?
Man muss eins noch mal in aller Deutlichkeit sagen: Was den Schutz von Menschenleben angeht, ist Deutschland im internationalen Vergleich relativ gut durch die Pandemie gekommen. Deshalb ist es ärgerlich, wie manche jetzt eine retrospektive Umdeutung versuchen. Zum Beispiel auch, was die Wirksamkeit von Masken angeht. Bei den Dingen, die es in Zukunft besser zu machen gilt, sollte man allerdings ehrlich sein. In der Wahl der Pandemie-Maßnahmen sind in Deutschland die Belange der Erwachsenen gegenüber dem Kindeswohl priorisiert worden. Andere Länder haben das anders gemacht, mit Homeoffice-Pflicht, Nahverkehrsbeschränkungen und strengen Ausgangssperren. Darum darf gerade die Schuldebatte nicht scheinheilig geführt werden. Soziale Ungleichheit in der Bildung ist nicht allein ein Corona-Thema.
Und mit Blick nach vorn kann man getrost fragen: Was wäre eigentlich, wenn es mal ein Virus gäbe, das für Kinder gefährlicher ist, zu dessen Verbreitung aber auch die Erwachsenen beitragen? Dann müssten wir uns zugunsten der Kinder einschränken, auch wirtschaftlich. Wären wir dazu bereit?
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